Der österreichische Benediktinermönch David Steindl-Rast begegnet auch im hohen Alter jedem Mitmenschen mit Offenheit. Ein Gespräch über die Liebe zum Leben, Überraschungen und Vertrauen.
Anne Voigt: Sie haben eine lange Lebenserfahrung. Was, denken Sie, ist das Wichtigste im Leben?
Wach bleiben, bewusst und dankbar leben und den Menschen mit Ehrfurcht und Liebe begegnen.
Was besorgt Sie heute am meisten?
Enttäuschend und beunruhigend ist der Umstand, dass bei allem, was sich in der Welt ereignet, wir in einem kleinen Boot sitzen und schon das Rauschen des Wasserfalls hören, auf den wir zusteuern. Aber wir tun nichts. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen. Ich versuche, Menschen darauf hinzuweisen: Meine Lieben, wacht auf! Es ist unsere einzige Chance. Auch der Dalai Lama sagt das ständig.
Was meinen Sie mit aufwachen?
Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität bedeutet nicht Machtbefugnis.
Sondern?
Autorität im ursprünglichen Sinn ist die Grundlage für rechtes Wissen und Handeln. Da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht, zu klären, was man tun soll und wie. Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk diese Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken.
Meinen Sie das im politischen Sinn? Die allgemeine Stimmung sieht eher nach Abgrenzung denn nach Vernetzung aus, oder?
Der Rechtspopulismus stützt sich auf Menschen, die sich übersehen und nicht geschätzt fühlen. Das muss unbedingt nachgeholt werden. Darum scheint mir das Konzept der Feindesliebe immer wichtiger zu sein. Lieben heißt, jemanden zu achten. Es ist ein Jasagen zur Verbundenheit. Wir gehören zusammen. Das zu betonen haben wir vernachlässigt. Das nachzuholen ist jetzt die große Herausforderung. Aber diese Achtung und dieses Ja zur Zugehörigkeit muss ich auch einem Menschen gegenüber erweisen, der mein Feind ist und dessen Feind ich bleibe. Das nimmt den Stachel aus der Feindschaft heraus.
Gibt es Politiker, denen das gelingt?
Barack Obama schätze ich ungeheuer. Er war ein wirklicher Mensch und Staatsmann inmitten von Politikern. Bis zuletzt hat er uns immer wieder dazu aufgefordert, Probleme zu erkennen und sie gemeinsam zu lösen, anstatt ständig nur die eine vorgefasste politische Position gegen die andere zu stellen. Feindesliebe heißt, wir gehören zusammen. Aber das ist natürlich schwierig.
Der jetzige Präsident im Weißen Haus sieht das anders, oder?
Ich schaue mir öfter Bilder von Donald Trump an und versuche, ihn als Menschen wertzuschätzen. Ich probiere mir vorzustellen, wie auch er seine Familie liebt. Ich versuche das wirklich. Man muss sich bemühen, das Menschliche im anderen zu sehen, egal, um wen es geht. Aber zugleich muss man klar sagen: Ich werde alles tun, damit er nicht erreicht, was er will. Das ist ein großes Programm.
Wie soll das gelingen?
Hoffnung ist ein Stichwort. Im spirituellen Sinn ist es die Offenheit für Überraschungen, also für etwas, das man sich nicht vorstellen kann.
Wie passt das von Ihnen gegründete Netzwerk ‚Dankbar leben‘ in dieses Konzept?
Dankbarkeit nach meinem Verständnis bedeutet nicht, für alles dankbar zu sein. Für schreckliche Dinge kann man keine Dankbarkeit aufbringen. Aber man kann für die Gelegenheiten, die sie einem bieten, dankbar sein. Momentan ist eine solche Gelegenheit, zu sehen, wo wir die Menschen, die zum Beispiel Donald Trump gewählt haben, nicht ehrfürchtig behandelt haben. Auch in unserem Denken. Wo haben wir verfehlt, sie überhaupt zu sehen oder mit ihnen in Kontakt zu treten? Das sind alles Gelegenheiten, Herausforderungen geradezu.
Welche Rolle spielt die Religion?
Hans Küng, der große Vertreter des ‚Projekts Weltethos‘, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‚Ethik ist wichtiger als Religion‘ von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.
Ist innerhalb dieses Dialogs die Religion also gar nicht so wichtig?
Ja, allerdings nicht in dem Sinne, wie es manchmal beschrieben wird. Es geht nicht um die Frage, was wir beispielsweise als Christen, Buddhisten oder Hindus glauben und was nicht. Vielmehr sollte der interreligiöse Dialog als ein Dialog aller Menschen verstanden werden.
Stehen religiöse Institutionen dem Dialog im Weg?
Die Institution ist dafür da, uns immer wieder an die Quelle zurückzuführen. Aber sie möchte sich als Institution auch selbst verewigen und vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Das ist eine große Gefahr. Das gilt nicht nur für religiöse und spirituelle Institutionen, sondern etwa auch für akademische oder politische. Ich nenne es das Syndrom der rostigen Röhren, denn Institutionen verhalten sich so. Es sind rostige Röhren, die uns aber auch immer wieder das Wasser der ursprünglichen Quelle zuführen.
Was ist Glaube für Sie?
Glaube ist ein radikales, mutiges Vertrauen in das Leben. Der Glaube an etwas kann aber auch ein Sich-Anklammern sein. Im Deutschen ist es missverständlich: Das Wort ‚glauben‘ bedeutet in der Alltagssprache gewöhnlich, etwas für wahr halten. Der religiöse Glaube wurde dann eben auch sehr häufig als ein Etwas-für-wahr-Halten von Glaubenssätzen verstanden und leider auch so gepredigt. Anstatt sich an Glaubenssätze zu klammern, ist es viel wichtiger, sich vertrauensvoll auf das Leben einzulassen.
Wie geht das, sich aufs Leben einzulassen?
Das Lebensvertrauen wird uns im Normalfall geschenkt. Erweist sich die Umwelt eines Babys als vertrauensvoll, vor allem die Mutter, ist eine Voraussetzung bereits erfüllt. Der zweite Pfeiler ist, dass die Umwelt einem Menschen früh Vertrauen schenkt. Wenn sich jemand mir gegenüber als vertrauenswürdig erweist, darf ich mich verlassen. Und wenn mir Vertrauen geschenkt wird, kann ich mich finden. Bei einem Menschen, der diese beiden Erfahrungen schon sehr früh erlebt hat, ist das eine sehr gute Grundlage.
Hatten Sie dieses Glück?
Ich muss dankbar zugeben, dass mir das sehr früh geschenkt wurde. Das Leben bringt uns aber immer wieder in Schwierigkeiten und macht uns Angst. Es ist sehr schwierig, sich in solchen Momenten nicht zu fürchten und durch diese Ängste ins Weite zu gehen. Jeder kennt solche Situationen und jeder reagiert anders, da gibt es psychische und psychophysische Prägungen. Ich bin persönlich depressiv veranlagt.
Sie haben Depressionen?
Ich habe immer wieder Depressionen, zum Glück meistens nur sehr kurze. Das sind schon große Belastungsproben für das Lebensvertrauen. Aber worüber man mit jedem sprechen kann und sollte, ist die Frage: Was ist die Alternative zu Lebensvertrauen. Lebensangst? Solange wir nicht durch psychophysische Belastungen eingeschränkt sind und eine Wahl haben, kann man immer wieder nur sagen: So schlimm es auch ist: Mit Lebensvertrauen auf schwierige Situationen zuzugehen hat mehr Chancen und ist viel angenehmer, als Lebensangst zu haben.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 102: „Wie Meditation heilt"
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