Im modernen Alltag wird keine Rücksicht auf die natürliche Chronobiologie des Menschen genommen. Über den richtigen Umgang mit Zeit.
Häufig wird missachtet, wie wichtig biologische Rhythmen für die menschliche Gesundheit sind. Unsere Urgroßeltern hatten noch intakte Rhythmen, da Nacht- und Schichtarbeit ebenso unbekannt waren wie Jetlag und das nächtliche Hängenbleiben vor dem Fernseher oder dem PC. Wahrscheinlich ist dies einer der Gründe, warum erst in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung des Rhythmus erkannt wurde: Erst mit ihrem Verlust in den heutigen Lebensumständen wurde die Wissenschaft auf die Bedeutung der Rhythmen aufmerksam.
Beeinflusst von Technik, Zeitdruck und To-do-Listen, sind sich die wenigsten Menschen noch bewusst, wie viel Rhythmus in ihrem Alltag vorhanden ist, und schon gar nicht, wie viel vielleicht schon verloren ging. Wir sind zwar gewohnt, die Bekleidung oder das Aussehen eines anderen Menschen zu bemerken, für den Rhythmus haben wir aber kein Sinnesorgan, wenn wir einmal von unserem musikalischen Empfinden absehen.
In unserem Leben sind wir von den vielfältigsten Rhythmen umgeben: Tagesrhythmus, Wochenrhythmus, Rhythmus des Jahres und der Jahresfeste, Herzschlag und Atmung. Die meisten dieser Rhythmen sind uns nicht bewusst, und wir verschlafen diesen spannenden und musikalischen Aspekt unseres Lebens.
Der zeitliche Körper des Menschen
Wie in der räumlichen Anatomie wirken die Rhythmen in der Natur und im menschlichen Organismus etwa so wie Sehnen und Muskeln im Körper zusammen. Der deutsche Mediziner Gunther Hildebrandt hat als Erster mit der wissenschaftlichen Erforschung des gesamten ‚rhythmischen Systems‘, nicht nur der Tagesrhythmen, begonnen. Er konnte nachweisen, dass eine große Zahl biologischer Rhythmen in Wechselwirkung zueinanderstehen und sie miteinander ein ganzes Rhythmusuniversum bilden, das den Organismus und seine Organsysteme durchdringt und koordiniert. Denkt man dieses System weiter, so kann man zum Schluss kommen, dass wir nicht nur einen räumlichen Körper besitzen, der durch die Anatomie etwa seit dem 16. Jahrhundert wissenschaftlich erforscht wird, sondern auch eine Art ‚zeitlichen Körper‘. Eine solche Vorstellung vom zeitlichen Körper des Menschen hat sich erst im 20. Jahrhundert entwickelt. Heute erforscht die Chronobiologie die komplexe Landschaft dieser zeitlichen Anatomie. Und wir stellen fest, dass nicht nur eine großformatige Anatomie, sondern sogar eine kleinteilige Histologie – Gewebelehre – der Zeit im Organismus zu beobachten ist. Viele kleine Rhythmen und Rhythmusänderungen bilden, über einen gewissen Zeitraum betrachtet, ein Gewebe von Rhythmen aus, das in einer bildlichen Darstellung tatsächlich Ähnlichkeit mit einem biologischen Gewebe hat.#
Sein eigener Zeit-Architekt werden
Durch die vielfachen Rhythmusstörungen der heutigen Zeit kann unser Leben leicht aus dem Takt kommen. Ein Großteil der Menschen könnte von Rhythmusschulungen profitieren, spätestens wenn nach einem Burn-out oder bei Schlafstörungen die Einsicht reift, wie wertvoll und regenerierend Rhythmus für Leben, Wohlbefinden und Gesundheit ist. So ist jeder selbst gefordert, eine gute, sich wiederholende Alltagsstruktur für sein Leben zu finden und es so zu gestalten, dass der Organismus von den natürlichen Rhythmen profitieren kann.
Hilfreich sein kann eine Rhythmustherapie. Dahinter verbirgt sich nichts Kompliziertes, nichts allzu Erstaunliches, nichts, was sich nicht alltäglich leben ließe. Zunächst sind es Dinge, die unsere Vorfahren ganz selbstverständlich taten, indem sie zum Beispiel zu immer gleichen Zeiten aufstanden, aßen und zu Bett gingen.
Und gleichzeitig ist es auch etwas ganz Wunderbares: Jeder hat die Möglichkeit, den eigenen zeitlichen Organismus bewusst zu gestalten. Erstmals in der Geschichte arbeitet der Mensch nicht nur durch ‚Bodybuilding‘ am körperlichen Leib, sondern auch an seiner zeitlichen Organisation – und wird sein eigener Zeit-Architekt. Es werden neue Lösungen für Probleme gefunden, deren wir uns früher gar nicht bewusst waren. Regelmäßigkeit ist das, was unserem Organismus entgegenkommt und ihn daher bestmöglich arbeiten lässt. Wer aus dem Rhythmus gefallen ist, sollte sich daher aktiv um eine solche Regelmäßigkeit im Tagesablauf bemühen.
Es gibt viele Übungsmöglichkeiten, um den verlorenen Rhythmus, die verlorene Zeitlichkeit des Menschen wiederherzustellen. Dafür muss man sich aber zunächst der Rhythmik des Alltags bewusst sein, es ist hilfreich, sich das persönliche Tagesprogramm schriftlich zu vergegenwärtigen.
Zeit haben
Ein gesunder Lebensrhythmus hat auch viel mit der Fähigkeit zu tun, Zeit zu haben. Es ist tatsächlich eine Fähigkeit – eine zudem, die sich (wieder-)erlernen lässt. Das heißt: Sich zunächst Zeit nehmen. Das gelingt, indem man 20 bis 30 Prozent mehr Zeit für Tätigkeiten einplant. Das betrifft zum Beispiel auch die Pausengestaltung. Oder beim Kochen. Wer täglich circa 40 Minuten fürs Kochen aufwendet, veranschlagt zehn Minuten mehr. Das ermöglicht einem, sich seinen Aufgaben nun liebevoll und mit Hinwendung zu widmen. Plötzlich könnte man also Handgriffe bewusst spüren, Zutaten riechen oder auf kleine Gedankenreisen gehen. Wie viel Arbeit war es, die Frucht oder das frische Gemüse zu ziehen? Der Boden musste vorbereitet werden, Licht und Wetter mussten passen, die Pflanzen gesät, gesetzt, gegossen, gepflegt und geerntet werden. Die schönsten Früchte wurden für den Verkauf ausgewählt. Und nun liegt diese Frucht da, um verzehrt zu werden. Dafür könnte man doch eigentlich dankbar sein, oder?
Das Paradox ist: Wer sich Zeit nimmt, um wirklich die Gegenwart wahrzunehmen und zu spüren, der hat damit auch sofort das Gefühl, Zeit zu haben. Die Fähigkeit, das Leben rhythmischer zu gestalten, ist auch eine Frage der Übung.
Architekten wirft man ja manchmal vor, dass sie zu hohe Erwartungen an die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Bauten hätten. Durch schöne und funktionelle Bauten, also die bewusste architektonische Gestaltung des Raumes, glauben sie, die Welt zum Besseren verändern zu können und Gutes für die Menschen zu tun. Und tatsächlich kann Raum sehr viel beeinflussen: die Stimmung der Menschen, ihre Kommunikationsmöglichkeiten, ob sie sich wohlfühlen, ob sie anderen Menschen begegnen oder nicht und vieles mehr. Was wir mit der Anwendung der Chronobiologie anstreben, ist eine Architektur der Zeit. Wir können sozusagen schöne und funktionelle Zeiträume schaffen. So gesehen kann gestalteter Rhythmus tatsächlich vieles von dem bewirken, was auch Architekten können. Gemeinsam werden wir dem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum, in dem wir uns als Menschen bewegen, gerecht. Die ersten drei Dimensionen werden von der Natur und von den Architekten (mit-)gestaltet, die vierte, die Zeit, gestalten wir selbst.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 102: „Wie Meditation heilt"
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