Seit Monaten kommen weltweit immer mehr Fälle von Missbrauch durch buddhistische Lehrer ans Tageslicht – die Grenzen zwischen sexuellem, psychischem, körperlichem Missbrauch und Machtmissbrauch verschwimmen. Das Bild des Gurus ist nachhaltig geschädigt.
Noch drei Züge, noch zwei Züge, noch ein Zug: Endlich kann der Kopf aus dem Wasser, schnell nach Luft schnappen, in der kurzen Zeit, die er aus dem Wasser ragt. Die rechte Hand holt nach hinten aus, stößt sich im Wasser nach vorne. Die linke Hand balanciert den Körper aus, während die Beine unermüdlich auf und ab treten. Der Kopf ist schon längst wieder unter Wasser abgetaucht. Noch ein Zug, zwei, drei, und schon geht der Kopf nach links aus dem Wasser: Mit schwerem Atem nimmt die Lunge so viel Sauerstoff auf wie möglich, die Bauchmuskeln sind angespannt, um ja nicht die Balance zu verlieren.
Kraulen als Erwachsener zu lernen ist schwer, die vielen unterschiedlichen Bewegungen müssen koordiniert werden. Für solche Gedanken bleibt kaum Zeit. Am Grund erscheint die Marke für das Ende der Bahn, mit letzter Kraft geht’s hin zum Beckenrand. Dort steht die Schwimmlehrerin und deutet: Wenden und noch eine Bahn.
Noch … eine … die Lunge fühlt sich ausgequetscht an, der Körper ist erschöpft, die Nase voller Wasser. Kaum vorstellbar, wieder retour zu ziehen. Doch was bleibt anderes übrig? In den Beinen ist keine Kraft mehr, die Lunge schreit nach mehr Sauerstoff.
In den nächsten Zügen passiert, was passieren muss: Dem Körper geht vermeintlich die Kraft aus. Die schwindende Energie in den Beinen zwingt den Rest des Köpers, länger auf dem Wasser zu gleiten und das Tempo zu drosseln. Und siehe da! Ganz neue Kräfte tun sich auf: Mit der neu verteilten Kraft gingen noch locker zwei weitere Bahnen. Doch die Lehrerin winkt am Ende der Bahn ab. Aber: Das Schlüsselerlebnis ist ein Durchbruch auf dem Weg zum flüssigen Kraulen.
Die Gefahren, die eine enge spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung beinhaltet, sind im Westen besonders groß.
Ein guter Lehrer ist Gold wert. Ein guter Lehrer weiß, wann und wie viel er den Schülern zumuten, wie sehr er sie fordern kann. Ein guter Lehrer erkennt Fähigkeiten an seinen Schülern, von denen die Schüler selbst nichts wissen. Was Sport für den Körper ist, ist Spiritualität für den Geist. Und auch die möchte trainiert sein. Die großen Weltreligionen präsentieren allesamt Wege zur Erlösung des Menschen. Im Christentum war der große Lehrer Jesus, im Islam Mohammed, im Buddhismus ist es Buddha.
Gerade in den verschiedenen Lehrrichtungen des Buddhismus haben sich Traditionen entwickelt, die stark auf die direkte Weitergabe der Lehre durch Übungen mit einem qualifizierten Lehrer setzen. ‚Guru‘ werden diese Lehrer im fernöstlichen Kontext genannt – ein Wort, das aus dem Sanskrit kommt und eigentlich ‚schwer‘ heißt: ‚Schwer‘ in Bezug auf die Tugenden und Qualifikationen, die der Lehrer mit sich trägt. Der Lehrer wird oft glorifiziert, in manchen Lehrsystemen ist das sogar Teil der Praxis: Die Idealisierung des Lehrers.
Was aber, wenn der Lehrer schlecht ist? Was, wenn er das zu Lehrende selbst nicht gut beherrscht oder es dem Schüler nicht richtig vermitteln kann? Was, wenn sich ein Scharlatan das Vertrauen gutgläubiger Schüler erschwindelt? Was, wenn eine Schwimmlehrerin etwa noch eine Bahn schwimmen lässt, noch eine und noch eine, bis der Schüler zusammenbricht?
Probleme im Paradies
Er habe vor seinen Schülern gekackt und sie geschlagen, erzählt eine ehemalige Schülerin von Sogyal Lakar, dem in Misskredit geratenen großen ‚Guru‘ Tibets im Westen. Mit dem Bestseller ‚Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben‘ berührte er ab Anfang der 1990er-Jahre ein Millionenpublikum, weltweit existieren 130 seiner ‚Rigpa‘-Zentren. Dass er mit seinen Schülerinnen geschlafen hat, ist unbestritten. Ihm wird dabei aber auch sexueller Missbrauch, Machtmissbrauch und körperlicher Missbrauch vorgeworfen. Seitdem einige seiner ehemals engsten Schüler sich 2017 in einem offenen Brief dahingehend geäußert haben, ist Sogyal als Rigpa-Leiter zurückgetreten – und dann abgetaucht.
Bei Shambhala, einer anderen großen Buddhismus-Organisation im Westen, gehen gerade ähnliche Vorgänge vor sich wie bei Rigpa. ‚Project Sunshine‘ heißt die Initiative einer Ehemaligen, die detaillierte Zeugenberichte über sexuellen Missbrauch des Leiters, Sakyong Mipham, veröffentlichte. Auch Sakyong hat daraufhin im vergangenen Juli seinen Rücktritt verkündet. Sein Vorgänger und Vater, der Gründer der Organisation, Chogyam Trungpa, war bekannt für seine Alkoholexzesse und Promiskuität. Auch Vorwürfe des Missbrauchs gab es.
Nicht nur im tibetischen Buddhismus, auch in Zen-Orden im Westen, seien es nun größere Organisationen wie die von Eido Shimano oder verhältnismäßig kleinere, wie etwa ‚Buddhas Weg‘ in Deutschland –, in immer mehr buddhistischen Sanghas werden Strukturen bekannt, in denen scheinbar etliche Menschen ausgebeutet werden – sexuell, finanziell oder psychisch. #metooguru, Whatnow, diffi.cult.de – per Mausklick erfährt man heute in diversen Blogs über das Scheitern von so vielen großen Gurus.
Der charismatische Guru
Schon 1982 warnte der bekannte Buddhologe John Snelling in einem Essay vor den ‚charismatischen Gurus‘: „Die Gurus versprechen unbegrenztes persönliches Wachstum“, doch erreichen würde man den gewünschten Effekt nie ganz. Dann heißt es: Nicht der Lehrer oder die Übung war falsch, sondern der Schüler sei gescheitert. Man hätte nicht hart genug gearbeitet, man war nicht ‚hingebungsvoll‘ genug. Es brauche eben noch mehr Anstrengung.
Die Gefahren, die eine enge spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung beinhaltet, sind im Westen besonders groß. Die meisten Menschen, die sich hier dem Buddhismus anschließen, wissen erstens kaum etwas über die Religion. Zweitens hat der Buddhismus einen ausgezeichneten Ruf, über die Gefahr sektenähnlicher Strukturen oder autoritärer Führer-Gurus ist kaum etwas bekannt. Und drittens wenden sich hier meist Menschen dem Buddhismus aus einer Krise heraus zu. Das mögen nur latente Langeweile oder kleinere Lebenskrisen sein, aber oft sind es schwere depressive Episoden, also Menschen mit psychischen Problemen. Anstatt psychologischer Hilfe finden sie Geborgenheit in einem buddhistischen Sangha.
Der Weg zur Erleuchtung hat nie etwas mit Missbrauch zu tun.
Besonders bei solchen Menschen kann es gefährlich werden. Anders als in Tibet, Indien, Thailand oder Japan, wo Menschen mit dem Buddhismus aufwachsen und die Religion zum Alltag dazugehört, glauben Menschen im Westen oft, im Buddhismus eine Methode zu finden, um Lebenskrisen zu bewältigen. Doch am Ende des buddhistischen Weges geht es nicht um die Bewältigung von Lebenskrisen im konventionellen Sinn, viel eher geht es um die komplette Auslöschung konventioneller Strukturen. Es geht darum, zu erkennen, dass das ganze Dasein eine Krise ist.
Von verrückten Yogis und sexuellen Verbrechern
Es geht darum, die Welt ganz neu zu begreifen – und genau das öffnet verschiedenen Formen von Missbrauch Tür und Tor. In Tibet gibt es etwa die Tradition der ‚Verrückten Yogis‘, die laut Legenden mit vollkommen unkonventionellen Mitteln innerhalb kürzester Zeit die Erleuchtung erlangen konnten: durch körperliche Überanstrengungen, sexuelle Praktiken oder moralische Übertritte. Mit dem Schlagwort ‚Crazy Wisdom‘ nahm Chogyam Trungpa, Gründer von Shambhala, darauf Bezug und konnte Alkoholexzesse und Promiskuität in die spirituellen Legendengeschichten einbetten. Je verrückter er nach außen schien, umso spirituell fortgeschrittener sahen ihn seine Anhänger.
Betroffene von Missbrauch erzählen, wie ihre Lehrer sexuelle Handlungen als ‚skillful means‘, also als fachkundige Mittel, auf dem Weg zur Erleuchtung erklärten. Und die Lehrer wiederum finden absurde Erklärungen für ihre Übertritte. Um sich an das westliche Publikum anzupassen, würden sehr fortgeschrittene Übungen an den Anfang der spirituellen Praxis gestellt. Sexuelle tantrische Übungen etwa, weil ja im Westen Sex so einen großen Stellenwert hätte. Die Grenzen zwischen kulturellen Missverständnissen, spiritueller Praxis und Verbrechen verschwimmen.
Das aufgeblasene Ego
Sex mit dem Meister sei ein Test: Mit solchen Sätzen werden labile Betroffene in Beziehungen mit den Gurus gelotst. Im besten Fall bringt der Lehrer keine schlechte Intention in so ein Lehrer-Schüler-Verhältnis mit. Im besten Fall ist der Lehrer einfach nicht qualifiziert und erkennt die Bedürfnisse seiner Schüler nicht. Im schlechtesten Fall konfrontiert der ‚charismatische Guru‘ seine Schüler mit fiesen Tests und Tricks, um sein eigenes Ego aufzublasen, aus krankhaft egomanischen Intentionen heraus – die ihm vielleicht selbst gar nicht bewusst sind.
Der Weg zur Erleuchtung hat nie etwas mit Missbrauch zu tun, betonen viele buddhistische Lehrer, unter ihnen auch der Dalai Lama. „Wenn man bedenkt, dass Shakyamuni sexuelles Fehlverhalten als eine der vier Übertretungen definiert hat, das sofortigen Ausschluss aus seiner Gemeinde mit sich brachte, […], ist es unglaublich, dass irgendein Buddhist Missbrauch oder die unsensible Handhabe von Macht durch einen tantrischen Meister als eine Art von Geheimlehre oder ‚crazy wisdom‘ verteidigen würde“, fasst Buddhismusforscher Joseph Loizzo in seinem Essay ‚The Guru Question‘ zusammen.
„Skillfuls means“ bedeutet, zu erkennen, was für einen Schüler passend ist. Die bekannte Geschichte von den zwei Fröschen aus Patrul Rinpoches ‚Words of my Perfect Teacher‘ ist hier aufschlussreich. Ein Frosch, der am Ozean wohnt, besucht einen anderen Frosch, der in einem tiefen Brunnen wohnt. Der Ozean-Frosch versucht dem Brunnen-Frosch zu erklären, wie groß der Ozean ist. Dieser kann die Größe nicht begreifen. „Ist er halb so groß wie mein Brunnen?“ „Genauso groß?“ „Doppelt so groß?“ Der Ozean-Frosch beschließt, ihm den Ozean zu zeigen. Doch überwältigt vom Anblick des Ozeans erleidet der Brunnen-Frosch eine Herzattacke und stirbt.
Derartige Lehrer, so Patrul, „haben keine besondere Fähigkeit, die sie in irgendeiner Form von anderen Personen abheben würde. Bloß andere Menschen stellen sie im blinden Glauben auf ein Podest.“ Das würde diese ‚Lehrer‘ mit Stolz erfüllen, und obwohl sie keine Ahnung vom ‚Ozean‘ haben, denken sie, besondere Lehrer zu sein.
Die richtige Wahl treffen
Viele Lehrer betonen daher – wie auch in Reden des Buddhas zu finden ist –, dass man einen Lehrer lange und genau prüfen solle, ‚wie Gold‘, bevor man ihm folgt. Auch der Dalai Lama zeigt immer wieder Skepsis an der Tradition der Guru-Verehrung. Mingyur Rinpoche, ein tibetischer Lehrer, der im Westen lehrt, zählt vier Grundqualitäten auf, die man bei der Wahl seines Gurus beachten sollte. Erstens sollte er eine authentische Linie an Lehrern haben. Zweitens soll er seinen Studien und der Praxis verpflichtet sein. Drittens soll er Mitgefühl beweisen und den Bedürfnissen des Schülers immer Vorrang geben. Und viertens sollte der Lehrer immer seine Gelübde und Gebote einhalten.
So wird bei der Wahl des Lehrers viel Verantwortung auf die Schüler übertragen – und das ist gut so. Der buddhistische Weg ist mühselig, anstrengend und schwierig. Deshalb ist ein guter Lehrer so wichtig – und nicht zum Selbstzweck. Nicht weil etwas Sinnvolles darin läge, einen Guru zu ‚haben‘. Der Guru ist einfach hilfreich, weil er die Etappen schon gegangen ist, weil er den Weg, die möglichen Hindernisse kennt, weil er selbst kleine Tricks und Kniffe erfahren hat, wie man rascher oder auch nur besser an Etappenziele kommt.
Eine Schwimmlehrerin trainiert Kraulen, weil sie kraulen kann. Überforderung kann in geringem Maße Teil des Trainings sein. Doch viele der ‚skillful means‘ der sogenannten Gurus sind so gefährlich, wie wenn man einen Kraul-Schüler, der noch nicht einmal schwimmen kann, auf ein Zehn-Meter-Brett schickt mit der Anweisung: Spring runter und kraule. Vielleicht übersteht er den Sprung, vielleicht schafft er es sogar, sich im Becken über Wasser zu halten. Mit Sicherheit kann er danach aber nicht kraulen. Viel wahrscheinlicher muss ihn ein Bademeister aus dem Wasser fischen. Und wahrscheinlich wird der Schüler nie wieder schwimmen gehen wollen.
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Illustration © Francesco Ciccolella
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