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Leben

Bedeutet Meditation eine Flucht nach innen? Und gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen innen und außen?

Der Weg des Meditierers ist der Weg nach innen. Nur dort finden wir Einsicht, Erkenntnis, Weisheit. Auch Empathie wurzelt innen: in der Fähigkeit, sich einzufühlen, im eigenen Inneren etwas nachzuempfinden. Das Helfen – die Praxis außen – kommt erst danach und ist meist eher eine Folge des Mitgefühls und nicht etwa die einer ethisch vorgegebenen Regel. 
So weit, so gut. Warum wird dann Meditation so oft mit Weltflucht assoziiert? In den Klöstern wurde es ‚Klausur‘ – lateinisch für Verschluss oder Verschlossenheit – genannt. Aber … wollten wir denn nicht eigentlich offener werden für die Welt? Die Buddhisten nennen ihre Einkehr ‚Retreat‘, das heißt ‚Rückzug‘. Aber … wollten wir als mitfühlende, empathische Menschen denn nicht hin zur Welt, wo wir helfen können, anstatt uns von ihr zurückzuziehen? Der konventionelle Mainstream hat unsere Meditationen und Retreats jahrzehntelang als Nabelschau verspottet. Tiefer schürfende Analysen haben unser Verhalten als Selbstverbesserungs-Egoismus denunziert. Egoismus??? Wir überwiegend hochsensiblen, achtsamen Weltverbesserer, die wir da meditierten und in Retreats gingen und noch gehen, wir wollten doch das Gegenteil davon: weg von der egogetriebenen Welt, hin in den Raum des Mitfühlens, in dem Innen- und Außenwelt eins sind.

Initiationskrise
Ich habe hierzu in einem Buch von Daniel Pinchbeck ‚How soon is now‘ – es erscheint im Februar im Scorpio Verlag – Hinweise gefunden. Unter anderem sieht er in der kommenden Ökokatastrophe, die ja teilweise schon da ist – es ist eher fünf nach zwölf als fünf vor zwölf –, eine Initiationskrise. Unbewusst haben wir uns diese Katastrophe geschaffen, schreibt er, um aufzuwachen, weil wir in unserer Kultur keinen Initiationsritus ins Erwachsensein mehr haben, ins Bewusstsein des verantwortungsfähigen Erwachsenen. Erst wenn uns das Wasser nicht nur bis zum Hals steht, sondern schon in den Mund hineinläuft, werden wir anfangen zu begreifen, dass wir uns ändern müssen.
Dann werden wir erkennen, dass wir eine Ich-Struktur haben, konstruiert aus vielen Wir-Strukturen, den Identitäten unserer Zugehörigkeit. Diese Ich-Struktur, im klassischen Indien Atman oder Atta genannt, ist ein Gewebe, das aufgrund seiner Interdependenz ständig in Bewegung ist. Es ist nie still und insofern unwirklich; ein waberndes Ganzes, ein Fließgleichgewicht. Diesen bewegten Ich-Strukturen entsprechen die jeweiligen Konstruktionen einer Außenwelt. Den Ich-Strukturen alias ‚Selbstbildern‘ der aktuell lebenden 7,4 Milliarden Menschen entsprechen also mindestens ebenso viele Konstruktionen einer Außenwelt – und beides flackert und schillert im Widerschein all der darauf einwirkenden Kräfte. Beide, die Selbstbilder ebenso wie die konstruierten Außenwelten, sind Teil eines großen, untereinander zusammenhängenden Gewebes. Beides ist miteinander verflochten und einander bedingend – sogar bezüglich der Ich-Strukturen schon Verstorbener: Das ist der große karmische Wirkungszusammenhang, wie Buddha ihn in der paṭicca-samuppāda , dem ‚bedingten Entstehen‘, beschrieb.

Ich und Du, Wir und Ihr
Wenn wir nun diese Ich-Struktur in uns selbst als unsere Persönlichkeit, unsere Eigenheit erkennen und dabei verstehen, wie fiktiv sie ist und wie sehr sie mit den entsprechenden – ebenso fiktiven – Ich-Strukturen anderer verflochten ist, relativiert sich sowohl der scharfe Gegensatz zwischen Ich und Du, Wir und Ihr wie auch der zwischen Innenwelt und Außenwelt. Meine Gedanken und Träume sind dann immer noch meine Gedanken und Träume, unterscheidbar von den Sinneseindrücken einer vermeintlichen Außenwelt, aber der, für den ich mich in alledem halte, und du, für den ich dich halte, und euch, alles das erscheint dann als ein Geflecht gestaltbarer Fiktionen, die mächtig in die Faktenwelt hineinwirken.

Wir sind Teile eines Kristallgitters
Wenn uns dieses Geflecht bewusstwird, verschwindet die Unterscheidung zwischen Egoismus und Altruismus. Als Egoist handle ich mit dem Ziel, dass ‚ich‘ etwas davon habe, als Altruist handle ich mit dem Ziel, dass jemand anderer oder andere etwas davon haben. Da aber ‚ich‘ und ‚die anderen‘ Teile ein und desselben Geflechts sind, ist die Ich- ebenso wie die Anders-Orientierung meines Tuns so etwas wie das Schwingen eines Moleküls in einem Kristallgitter; da schwingt dann jeweils das Ganze mit. Wenn ich anderen Gutes tue, tue ich mir selbst Gutes, und wenn ich beim An-mich-Raffen vermeintlich ‚nur mir‘ etwas Gutes tue, schwingt das ganze Kristallgitter auf eine Weise mit, sodass ich mir selbst nichts Gutes damit tue. Wir sind eben miteinander verbunden.

Der Erdmittelpunkt
Hierzu noch eine weitere Metapher: Wir stehen alle auf der Oberfläche einer Kugel. Ist ja auch so: die Erdkugel, auf der 7,4 Milliarden Menschen leben. Jeder hat von seinem Standpunkt aus eine einzigartige Perspektive auf das Ganze und jeder (mindestens) ein Selbstbild, eine Ich-Struktur. Diese Ich-Strukturen oder Standpunkte, von denen aus wir Menschen in die Welt hinausschauen, sind zwar verschieden, drehen sich aber allesamt alle 24 Stunden um ein und denselben Punkt, den Erdmittelpunkt. Von dort aus schauen wir hinaus in den Kosmos, in die Welt, in die vermeintliche Außenwelt. Von nur einem Punkt aus. Der zudem einmal im Jahr die Sonne umkreist – ich bin immer noch innerhalb der Metapher –, in einer Als-ob-Wirklichkeit, denn auch dieses Kreisen ist relativ, sogar für einen Physiker.
Und so wie der Punkt in einer Linie – eindimensional – und die Linie in einer Ebene – die zweite Dimension – nur ein unendlich kleiner Teil sind, so ist die Ebene der Erdoberfläche, die wir täglich als solche wahrnehmen, in der dritten Dimension die Oberfläche einer Kugel. Alle Standpunkte auf dieser Oberfläche könnten in einer vierten Dimension zu einem Punkt zusammenschrumpfen – der Blick von der Erde aus ins Weltall wäre dann einer von nur einem Punkt aus: alle 7,4 Milliarden Ichs verschmolzen zu einem Punkt, von dem aus sie hinausschauen in die Welt.

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Gibt es eine Außenwelt?
Unter den zwölf Stationen des ‚bedingten Entstehens‘ – paṭicca-samuppāda – besteht die fünfte in den ‚sechs Sinnestoren‘ – salāyatana . Das ist das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Denken. Fünf davon vermitteln uns die Außenwelt, eines Innenweltliches. Die Wahrnehmung der Innenwelt gilt hier also als nur einer von sechs Sinnen – salāyatana , so als sei das Illusorische eines Gedankens, eines Wunsches oder einer Fantasie prinzipiell nichts anderes als das eines visuellen, auditiven oder taktilen Eindrucks. Mit unserem Geist ertasten wir den Innenraum unserer Seele, unserer Gefühls- und Gedankenwelt in ähnlicher Weise wie mit unseren Sinnen die Außenwelt. Und im Bewusstsein, dass beides ein Ertasten ist, verschmelzen diese Räume, so wie Rilke das in einem seiner Gedichte ausdrückte:


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 99 „Wach auf mit Yoga"

UW99 COVER


Der eine Raum
Durch alle Wesen reicht der e i n e Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.

Zyklen
Ist eine solche Weltwahrnehmung praktizierbar? Ich finde, sie ist kaum vermeidbar. Sobald ich mit meinem Bewusstsein in der Frage ‚Was ist denn wirklich?‘ verweile, ohne mich auf eine der dann auftauchenden Antworten zu fixieren – sie gehen ja vorüber, eine nach der anderen –, bin ich in diesem Weltinnenraum. Da fliegen dann meine Gedanken vorbei wie Vögel über den Himmel und Charakterzüge wachsen in mir wie die Birken und Kastanien da draußen. Es ist alles eins und in diesem Ganzen verschwindet jegliche Angst. Es kann ja nichts mehr verloren gehen. Wenn ich sterbe, bin ich immer noch drinnen, in diesem Raum.
Wir bewegen uns in Zyklen, in denen nichts verloren geht. Alles bewegt sich. Die Dinge bewegen sich und auch jede Identität bewegt sich. Nur in der Mitte dieser Zyklen ist es still.

Wolf Schneider, geboren 1952, ist Autor, Redakteur, Kabarettist. Er studierte Wissenschaftstheorie. Von 1985 bis 2015 Herausgeber der Zeitschrift Connection . www.connection.de
 

Bild © Pixabay

Wolf Schneider

Wolf Schneider

Wolf Sugata Schneider, ehemaliger Mönch in der buddhistischen TheravadaTradition, ist heute Autor und Humorist. www.connection.de www.bewusstseinserheiterung.info
Kommentare  
# Karin 2018-11-09 08:48
Schön hier einen Artikel von Wolf Schneider zu finden! Habe jahrelang die Connection gelesen
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