nayphimsex

Leben

Auch in unseren gewöhnlichen Handlungen können wir eine geheimnisvolle Dimension entdecken. 


In Robert Musils Roman ‚Mann ohne Eigenschaften‘ beschreibt der Autor, wie Ulrich, die Hauptfigur und vielleicht das Alter Ego des Schriftstellers, im Sommer durch einen Garten spaziert, dabei blühende Blumen und Sträucher betrachtet und beobachtet, dass er so manche Blüten mit Namen zu benennen vermag, andere ihm unbekannt sind:

Dann bedeuteten die goldenen Sternchen auf einer nackten Gerte ‚Goldbecher‘, und jene frühreifen Blätter und Dolden waren ‚Flieder‘. Kannte er den Namen aber nicht, so rief er wohl auch den Gärtner herbei, denn dann nannte dieser alte Mann einen unbekannten Namen, und alles kam wieder in Ordnung, und der uralte Zauber, dass der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt, erwies seine beruhigende Macht wie vor zehntausend Jahren.

Mystik ist eine innere Erfahrung, die an keinen Kontinent und an keine Religion gebunden ist.

Wenn Ulrich allerdings bei seinem Weg durch den Garten eine Blüte nicht benennen konnte und auch der alte Gärtner nicht zugegen war – und so die Ordnung schaffende Macht eines Namens nicht zur Verfügung stand –, dann war er der ‚ungezähmten Wildheit‘ der Dinge ausgesetzt. Musil deutet hier die Macht von Wort und Sprache an, die Dinge definiert, kategorisiert und so zu unserer Beruhigung und scheinbaren Sicherheit beiträgt. Die Macht des Wortes und des Namens zeigt sich aber natürlich nicht nur gegenüber den Dingen der Natur, Ähnliches gilt auch für den metaphysischen Bereich, für Religion, für alle Arten von Ideologien, für die Wissenschaft, ja eigentlich für alle Dinge, die uns Menschen betreffen. Wörter und Wissen stellen aber auch eine Distanz zu den Dingen her. Sie sind für die Spaltung zwischen einem Subjekt und einem Objekt mitverantwortlich. Fehlt die Benennung, die Sprache, so ist eine Möglichkeit für ein Erleben geschaffen, das man Alltagsmystik nennt.
Was meint nun der Begriff Mystik überhaupt? Was könnte Alltagsmystik bedeuten? Der erste Teil dieses Wortes, nämlich Alltag, gibt das Übungsfeld vor. Es meint, dass mystische Erlebnisse nicht potenziell überall und immer ‚erfahren‘ werden können. Das Wesen einer Alltagsmystik ist es, mystische Erfahrungen in das alltägliche Leben zu integrieren. Sie können zwar unvorhergesehen eintreten, hergestellt werden können sie aber wohl kaum. Eine regelmäßige spirituelle Übungspraxis in Form von Meditation, Gebet, Körperübungen und Ähnlichem sowie die Transponierung dieser dabei geübten Achtsamkeit, Wachheit und Aufmerksamkeit in Alltagshandlungen erscheinen essenziell.

UW98 Holzinger

Der zweite Teil des Wortes Alltagsmystik, nämlich Mystik, ist schwerer zu definieren. Das Wort Mystik kann abgeleitet werden vom griechischen Wort ‚mysterion‘ für ‚Geheimnis, Geheimlehre‘ oder von ‚myein‘, was ‚die Lippen zusammenpressen, Lippen, Augen oder Wunden schließen‘ bedeutet. Letzteres deutet an, dass Mystik heilsam sein kann. Das Wort ‚myein‘ impliziert aber auch, dass mystische Erfahrungen schwer sprachlich definiert werden können. Mystik kann bloß umschrieben werden, sie hat eine Erfahrungsdimension, was aber das Bemühen um eine Definition nicht entbehrlich macht. Der englische Mystiker Bede Griffiths beschreibt Mystik als eine Weise innerer Erfahrung, die an keinen Kontinent und an keine Religion gebunden ist, wenngleich jede Religion, Kultur und Form von Mystik ihre eigene Prägung hat. Ein weiteres wichtiges Merkmal von Mystik ist eine Einigungs- oder Verbundenheitsdimension. Es kann eine aufsteigende Mystik definiert werden, in Richtung einer Entität über der Welt und über dem Kosmos, in Richtung eines Gottes, eines Absoluten, wie dies vor allem in den theistischen Religionen der Fall ist. Eine Alltagsmystik wäre dem gegenüber gerichtet auf etwas, das von dieser Welt ist, also eine absteigende Mystik. Sie zielt darauf ab, Heiligkeit in profane Alltagshandlungen zu bringen, ja, dass zwischen heilig und profan kein Unterschied besteht. Es wird also nicht eine Überwindung des Alltags, der Welt und ihrer Dinge angestrebt, sondern das Sich-Einlassen auf und in sie.

Alltagsmystik zielt darauf ab, Heiligkeit in profane Handlungen zu bringen.

Aus Sicht des philosophischen Daoismus und wohl auch des Zen würde man den Begriff einer horizontalen Mystik vorziehen. Im Daoismus nämlich nimmt der Mensch keine Sonderstellung über oder außerhalb der Natur ein, er ist in sie eingebunden und steht auf derselben Ebene wie das Tier, die Pflanze und das Ding. Man bleibt lieber bei der Konzentration auf das Alltägliche und gibt sich dem Wandel der Natur hin. Im Zen finden wir eine Übungspraxis, für die eine Alltagsmystik essenziell ist. Der ab dem 1. Jahrhundert nach Christus sich in China ausbreitende Buddhismus wurde durch den Daoismus ganz wesentlich beeinflusst. Es kam zu wichtigen Veränderungen des Buddhismus in China, die später im japanischen Zen Wirkung zeigten. Zum Ersten wurde der Glaube an die Reinkarnation zurückgedrängt zugunsten einer Konzentration auf das Diesseits und auf ein diesseitiges spontanes Erwachen zur Freiheit des Bewusstseins. Ein weiteres wesentliches Element veränderte den Buddhismus gravierend: die Ästhetik. Sie deutet einen Schwenk von einer spekulativen Lehre hin zu einer Alltagspraxis an. Es kam nicht nur zu einer Ästhetisierung von Alltagshandlungen, diese wurden auch durch Achtsamkeit und immerwährende Übung von handwerklichen Tätigkeiten zu einer Kunstfertigkeit und zur Meisterschaft gebracht. In dieser Tätigkeit aufzugehen, mit ihr eins zu werden und sein Ich dabei zu verlieren, war der Sinn dieser Übungen. Die Wurzeln für ein solches Tun liegen im Daoismus, weiterentwickelt wurde dieses Element dann im chinesischen Chan und später im japanischen Zen. Künste wie Kalligrafie, Bogenschießen, Teezeremonie oder Schwertkunst wurden maßgeblich für die japanische Gesellschaft. So fanden Anmut, Einfachheit und Schönheit im Vergänglichen ihren Ausdruck im alltäglichen Leben.

Eine Geschichte aus der Schrift des Zhuangzi lässt Alltagsmystik erahnen:
Herzog Huan las in seiner Halle ein Buch. Da kam der Wagenmacher Pian, der im Hof unten ein Rad anfertigte. Er legte Hammer und Meißel beiseite und ging hinauf in die Halle. Er fragte den Herzog folgendes: „Darf ich fragen, wessen Worte es sind, die Sie da lesen?“ Der Herzog antwortete: „Es sind die Worte der Berufenen.“ „Leben denn die Berufenen noch?“ Der Herzog antwortete: „Nein, die sind schon lange tot.“ „Dann ist ja das, was Sie da lesen, der Abfall von toten Leuten und weiter nichts.“ Der Herzog erwiderte darauf erbost: „Seit wann hat ein Wagner das Recht, darüber zu diskutieren, welche Bücher ich lese? Wenn du darauf etwas zu sagen hast, dann antworte, wenn nicht, dann mußt du sterben!“ Der Wagenmacher antwortete: „Ich betrachte es von meinem Handwerk aus. Wenn ich ein Rad meißle und die Stöße des Hammers zu sanft sind, dann rutscht der Meißel ab und findet keinen Halt. Wenn die Stöße des Hammers zu hart sind, dann klemmt der Meißel fest und bewegt sich nicht mehr. Weder zu weich noch zu hart – man kann es in den Fingern erlangen und im Herzen dafür resonanzfähig, yin, werden, aber der Mund kann es nicht ausdrücken. Es gibt eine Kunstfertigkeit dabei, die ich nicht einmal meinem Sohn vermitteln kann, und er kann sie auch nicht von mir lernen. So halte ich es seit siebzig Jahren und mache in meinem Alter immer noch Räder. Als die Menschen des Altertums gestorben sind, starb mit ihnen das, was sie nicht übermitteln konnten, deswegen ist das, was Sie lesen, nichts als der Abfall der Alten!“

Dr. Günther Holzinger MAS arbeitet als Facharzt für Innere Medizin und als Psychotherapeut in eigener Praxis in Freistadt. Er studierte ‚Spirituelle Theologie‘ und übt sich seit 25 Jahren in der Zen-Praxis.


Weitere Artikel zu diesem Thema finden Sie hier.

Illustrationen © Francesco Ciccolella

 

Kommentar schreiben

Gemeinsam machen wir den Unterschied Unterstutze uns jetzt 1