Das Ich oder das Selbst sind nichts Festes. Trotzdem sind wir ständig auf der Suche nach der Identität.
Wenn der Buddha heute lehren würde, dann nicht über das Leiden, das ist uncool, und auch nicht über das Nicht-Selbst, das ist zu missverständlich. Er würde über Identität sprechen. Wer bist du eigentlich? Wer oder was ist dieses Ich oder Selbst? Womit identifizierst du dich? Was betrachtest du als dein eigen? Als buddhistischer Mönch lernte ich, dass es drei Daseinsmerkmale gibt: Dukkha – das Leiden, Anicca – die Unbeständigkeit und Anatta – das Nicht-Selbst. Alle drei verweisen auf dasselbe. Es sind lediglich drei verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit, drei verschiedene Fenster. Je nach Typ können wir leichter durch dieses oder durch jenes Fenster die Wirklichkeit erkennen.
Die Lehre des Identitätsvadin
Für mich war Anatta das Fenster. Nach jahrzehntelangem Ringen mit dem, was Anatta eigentlich bedeutet und was Buddha, der ‚Anattavadin‘, der Lehrer des Nicht-Selbst, mit seiner Lehre eigentlich meinte, fasse ich das heute so zusammen: Es geht um die Identität, um unsere menschliche Identität. Mit Identität ist hier nicht die mathematische Identität gemeint, sondern die Frage, wem oder was das Ich oder Selbst eines Menschen gleicht. Ist dieses Ich einzigartig? Ist es veränderlich? Wenn wir diesen Fragen folgen und dabei in uns hineinhorchen, hineinspüren, treffen wir auf genau dieselben Daseinsmerkmale, die der Buddha damals formulierte, nur sprechen wir heute anders darüber. Das Wort, das heute am besten für diese Suche nach der Natur der Wirklichkeit passt, ist ‚Identität‘.
Womit identifizierst du dich?
Der Begriff der Identität kommt ohne den Geruch von Esoterik oder Religion aus. Er erlaubt eine einfache Untersuchung: Womit identifiziere ich mich denn heute wieder? Und das Ergebnis ist, wen wundert’s: Es sind nicht immer dieselben Sachen, mit denen wir uns identifizieren. Womit wir bei Anicca wären, der Unbeständigkeit. Und bei Dukkha, dem Leiden, denn wer sich mit etwas identifiziert, das sich ändert, gerät mit jeder solchen Änderung in eine Identitäts- oder zumindest Identifizierungskrise, er leidet also. Drittens ist auch das Subjekt der Identifikation, das Ich oder Selbst, nichts Festes. Genau genommen findet man es nicht einmal, so sehr man auch danach sucht, denn in dem Moment, wo man es anschauen zu können glaubt, hat man es schon zum Objekt gemacht, auf das ein Subjekt schaut. Also wieder nix, es geht nicht. Der Prozess der Selbsterkenntnis hat kein Ende, jedenfalls führt er nicht zu einem vorweisbaren Ergebnis.
Gedanken und Gefühle
Man kann diese moderne Formulierung der Lehre des Buddha auf die für ihn so zentrale Praxis des sati anwenden, die heute unter dem Begriff Achtsamkeit Hochkonjunktur hat. Dann besteht die Aufgabe darin, sich gewahr zu sein, wohin man die eigene Aufmerksamkeit, den Fokus des Bewusstseins, gerade richtet und wie dabei Anhaftung geschieht. Nie wieder Langeweile, nie wieder ein Bedürfnis nach Ablenkung, Unterhaltung, Zerstreuung: Es ist doch endlos spannend, sich selbst dabei zuzusehen, worauf sich die eigenen Gedanken gerade richten! Und was für Gefühle dabei aufkommen. Und was für Körperempfindungen. Genau genommen hat jeder Gedanke eine Gefühlsqualität, vielleicht so wie ein gesprochenes Wort nicht nur einen wörtlichen Sinn, sondern auch einen Klang hat, eine emotionale Komponente. Oder so wie in der Musik die Töne eine Struktur haben, eine Abfolge, die uns als Melodie erscheint, aber sie haben auch einen Klang, der fühlbar ist. Oder noch anders: Was wir tun, wird von Gedanken strukturiert, aber von Gefühlen angetrieben – die Gedankengebäude sind das Fahrzeug, aber um voranzukommen braucht das Fahrzeug Sprit, und das sind die Gefühle.
Das Wunder des Geistes
Erstaunlich, wohin sich unsere Aufmerksamkeit überall richten kann – und wie schnell! Das Wunder des menschlichen Geistes. Wir fokussieren auf etwas und blenden dabei anderes aus – normalerweise fast alles andere. Sich auf etwas auszurichten bedeutet, in einen Wahrnehmungstunnel einzutreten. Das ist die Natur der Faszination, die man sehr gut bei spielenden Kindern beobachten kann und bei Fans aller Art. Sie identifizieren sich in Sekundenschnelle mit einem Objekt oder einer Rolle und wollen dann dieses Objekt haben oder in dieser Rolle gewinnen. Meist können sie sich leicht wieder davon lösen. Wenn nicht, fließen beim Verlust des Objektes oder Verlieren des Spiels die Tränen. An einigen Rollen aber haften sie lange, so wie wir Erwachsene auch.
Das Spiel
„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schrieb einst Friedrich Schiller. Meinte er damit, wir sollten bloß so tun als ob, also das eine zeigen und das andere sein? Das nicht, meine ich. Seinen Ausspruch verstehe ich eher im Sinne des Sanskrit-Begriffs des Leela, des göttlichen Spiels: Wir sind in unserem Leben Figuren auf einer riesengroßen Bühne, auf der wir zusammen mit anderen Figuren die Dramen aufführen, die unser Leben ausmachen. Mal sind wir dabei Gewinner, mal Verlierer, mal Schurken, mal Heilige. Die Rollen wechseln, keine bleibt für immer an diesem Körper haften, und auch der Körper ändert sich. Erst wenn wir unser Leben als ein solches Spiel verstehen, sind wir ‚ganz Mensch‘ im Sinne von Schiller. Und erst wenn wir uns dabei unserer Rollen ganz bewusst sind, sodass wir sie abstreifen können wie Klamotten, die wir nicht mehr brauchen, erst dann sind wir frei von Anhaftung und damit von Leiden.
Sei leidenschaftlich!
Wenn nicht auf die wechselnden Rollen und die Objekte des meist blitzschnell wechselnden Fokus unseres Geistes, wohin soll sich unsere psychische Energie denn dann richten? Neti, neti, nicht dieses, nicht jenes, heißt es dazu in den Upanishaden. Das wäre ein leidenschaftsloses Leben. Das mag gut sein für Mönche, Nonnen, Sadhus, Eremiten. Die meisten von uns aber wollen trotz des Leidens, das die Anhaftungen mit sich bringen, lieber ‚leidenschaftlich‘ leben, gemäß dem Motto heutiger Motivationstrainer: Be passionate! Setz dich für das ein, wofür dein Herz schlägt! Denn das, vielleicht nur das, macht einen Menschen wirklich glücklich.
Dann musst du aber auch akzeptieren, dass es auf und ab geht und das Leben eine Achterbahnfahrt ist. Mal gewinnst du, mal verlierst du. Du bist berührbar, aber auch verletzlich. Das ist dann nicht mehr der Weg des Brahmacari oder Asketen, die via negativa der europäischen Mystik, der Rückzug aus möglichst jeder Anhaftung, sondern es ist die via positiva, die Hinwendung zu allem, die Liebe. Und die sagt: Auch das bin ich! Nichts Menschliches ist mir fremd, kein Leiden ist mir fern, ich fühle es mit. Ein solcher Mensch identifiziert sich mit allem Wahrgenommenen.
Versenkung
Solch grenzenloses Mitgefühl kann nur aushalten, wer sich gelegentlich – besser: regelmäßig – in die Stille begibt und dabei in den weiten Raum der Nicht-Identifikation eintaucht, aus dem alles hervorgeht und in den hinein alles auch wieder vergeht.
Eine solche Praxis der Meditation ist die vielleicht notwendige Voraussetzung für ein Leben mit offenem Herzen, ein Leben des Mitempfindens mit allem, was fühlt, atmet, leidet. Wer stark mitfühlt, ohne in der Stille beheimatet zu sein, im Raum der Nicht-Identifikation, verbittert allzu leicht und wird dann zum Zyniker. Gerade die Feinfühligen unter uns brauchen diese Verankerung. Sie müssen in sich selbst ruhen, in sich als unverführbares Subjekt, nicht als isoliertes Ego. In der offenen Weite des ‚Auch das bin ich‘ beheimatet, brauchen sie dann keine Schutzmauern um sich herum. Ihre Offenheit und Verletzlichkeit ist dann kein Nachteil mehr, sondern eine Stärke, und diese Stärke befähigt sie, auch anderen zu helfen.
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