Die Angst vor einem drohenden Klimawandel hat das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ in den Sprachgebrauch gebracht. Die Zen-Meister vergangener Jahrhunderte führen uns aber vor Augen, dass die Achtung vor der ‚Schöpfung‘ untrennbarer Teil, ja sogar die Essenz des Zen-Buddhismus ist.
Zen ist die Lehre der mündlichen Weitergabe. Dennoch wüssten wir vieles nicht, hätten nicht eifrige Schüler großer Lehrer dasjenige aufgeschrieben, was uns heute in Form der berühmten Zen-Geschichten erhalten ist. Drei von diesen und ein tägliches Dankgebet aller Zen-Schüler stelle ich hier vor.
Nahrung ist kostbar
Ein Mönch macht sich auf die Suche nach einem Zen-Meister, bei dem er seine Zen-Kenntnis vertiefen könnte. Nach langem Suchen erreicht ihn die Kunde von einem außergewöhnlichen Meister, der weit entfernt in einem Bergkloster lebt. Der Mönch begibt sich auf die Wanderschaft und erreicht schließlich den Fuß des betreffenden Berges. Das letzte Wegstück führt entlang eines Baches im Wald bergauf.
Da sieht er ein vergilbtes Rettichblatt, das im Bach heruntergeschwommen kommt. „Ach, da haben sie im Kloster oben ein Blatt in den Bach geworfen. Dieser Lehrer kann kein wirklich guter Zen-Meister sein, wenn er eine solche Verschwendung duldet“, denkt er und dreht um. Einige Minuten später holt ihn ein junger Mönch ein, der mit fliegendem Gewand den Berg hinuntergelaufen kommt und, ganz außer Atem, das Rettichblatt aus dem Wasser fischt. „Also doch ein guter Zen-Meister“, denkt schließlich der Suchende und kehrt um.
Im täglichen Leben äußert sich die Einstellung zu den Dingen. Jede Handlung – und sei sie noch so unbedeutend – ist ein Ausdruck dessen, wie wir denken. Ein Rettichblatt, das achtlos weggeworfen wird oder irrtümlicherweise in den Bach fällt, kann ein Universum bedeuten. Tag für Tag treffen wir Entscheidungen. Werfen wir die verschrumpelte Karotte in den Müll – oder kochen wir daraus eine Gemüsesuppe?
Seit der chinesische Zen-Meister Pai Chang (720-814) die Arbeit auf dem Feld als Teil des Mönchs-Curriculums eingeführt hatte, ist die Landwirtschaft Teil der Zen-Praxis. Der Rettich, zu dem das Blatt in der obigen Geschichte gehört hatte, war höchstwahrscheinlich in diesem Kloster gezogen worden.
Jede Handlung – und sei sie noch so unbedeutend – ist ein Ausdruck dessen, wie wir denken.
Um Rettiche geht es auch in der Geschichte, die Zen-Meister Suzuki Shunryu (1905-1971) seinen Schülern erzählt hat. Als er zehn oder elf Jahre alt war, legte er mit anderen Jungen seines Alters und seinem Zen-Lehrer Rettiche in Salz ein. Ein Fass misslang und die Rettiche verdarben. Sein Zen-Lehrer setzte seinen kleinen Schülern die verdorbenen Rettiche trotzdem vor. Sie wollten sie nicht essen. Trotzdem bekamen sie sie jeden Tag wiederum serviert. Schließlich nahm der junge Suzuki die Sache in die Hand. In der Nacht stahl er sich aus dem Zimmer, holte das Fass mit den verdorbenen Rettichen und vergrub es im Garten. Schlau wie er war, dachte er, damit hätte er das grausliche Zeug endlich aus der Welt geschafft.
Sein Zen-Lehrer war aber schlauer, denn am nächsten Morgen lagen die Rettiche wieder auf dem Teller – mit dem Hinweis, dass die Jungen so lange nichts anderes zu essen bekommen würden, so lange diese Rettiche nicht aufgegessen worden seien. So blieb den Kleinen nichts anderes übrig, als die verdorbenen Rettiche hinunterzuwürgen. Suzuki Roshi erzählte viele Jahre später lachend, dass er damals zum ersten Mal eine Erfahrung des Nicht-Denkens gemacht habe. Denn nur so habe er den Rettich hinuntergebracht.
Mottainai
Vermutlich hat Suzuki Roshis Zen-Lehrer ein ganz bestimmtes Wort gebraucht, als er seinen Novizen die Lektion beibrachte, alles aufzuessen, nämlich ‚mottainai‘. ‚Mottainai‘ ist ein Ausruf, der übersetzt werden könnte mit ‚So eine Verschwendung!‘ Doch mehr als im Deutschen schwingt dabei gleichzeitig tiefes Bedauern mit, dass etwas Kostbares zerstört und gering geschätzt wird. Mottainai ist ein zusammengesetztes Wort, das aus mottai und nai gebildet ist. ‚Mottai‘ beschreibt den innewohnenden Wert und die Würde eines Dings und ‚nai‘ bedeutet ‚nicht‘.
In diesem Wort steckt ein Gefühl der Dankbarkeit für alles. Dankbarkeit und Respekt für die Früchte des Waldes und des Feldes, Dankbarkeit für ein Dach über dem Kopf und auch Dankbarkeit dafür, dass andere Menschen uns beschützen und uns Dinge zugutekommen lassen. Es ist eine tiefe Wertschätzung gegenüber selbst den kleinsten Dingen und wenn diese zerstört oder weggeworfen werden, ist ‚Mottainai‘ mehr als nur so ein dahingeworfener Ausruf.
Dieses Bedauern kann auf einen Gegenstand, auf das Essen, aber auch auf unnütz verbrauchte Zeit abzielen. Mottainai ist ein altes buddhistisches Wort, das beinhaltet, dass alles auf der Welt, selbst das kleinste Reiskorn, großen innewohnenden Wert hat. Im Zen-Kloster und bei den traditionellen Zen-Sesshins auch mit Laien wird daher nach dem Essen die Essensschale mit Tee ausgewaschen und getrunken, sodass selbst noch ein Reiskorn, das versehentlich am Rand kleben blieb, nicht verloren geht. Der Tee oder das Wasser, das vom Kochen übrig bleibt, wird nicht achtlos weggeschüttet, sondern einer Pflanze zugeführt. Die geringsten Nährstoffe werden so in den Kreislauf der Natur zurückgegeben.
Es war auch ein japanischer Zen-Priester, der mich vor einigen Jahren auf die Mottainai-Bewegung hingewiesen hat. Wie in vielen anderen Ländern gibt es auch in Japan zur zunehmenden Wegwerfgesellschaft eine Gegenbewegung, die auf Recycling und Reparieren setzt. So wird das alte Wort mottainai von der grünen Bewegung in einem neuen Kontext verwendet.
Interessanterweise ist dieses Wort zu einem internationalen Begriff geworden. Denn die Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2004, Wangari Maathai aus Kenia, ist bei ihrem Japanbesuch 2005 vom Chefredakteur der großen Tageszeitung Mainichi Shimbun auf die tiefe Bedeutung des Wortes Mottainai hingewiesen worden. Seither setzt sich Wangari Maathai dafür ein, mottainai als Schlüsselwort für die 4 Rs (reduce, reuse, recycle, repair) international bekannt zu machen. Unter anderem sprach sie – mit einem T-Shirt mit dem Wort ‚mottainai‘ bekleidet – vor den Vereinten Nationen darüber.
Alles ist kostbar
Im Text Bodhisattvas Gelöbnis, den jeder Zen-Schüler bei Sesshins rezitiert, heißt es:
„Wenn ein Suchender des Dharma wie ich die eigentliche Gestalt des Universums erforscht, dann erkennt er in allem den Ausdruck einer wundersamen Wahrheit. In jedem Staubkorn und in jedem Moment leuchtet dieser Wahrheit wundersames Licht.“
Nichts gering zu schätzen, und sei es noch so klein, könnte als Überschrift über dem Leben vieler Zen-Meister stehen. Ganz besonders trifft es auf Meister Ryokan zu.
Zen-Meister Ryokan lebte im 18. Jahrhundert als Eremit ein einfaches Leben. Er spielte mit den Kindern und galt bei den Dorfbewohnern als ein bisschen einfältig. Sie gaben ihm etwas von ihrer Ernte ab und er nahm es dankbar entgegen. Mit dem Essen ging er sparsam und respektvoll um und oft hob er seine Essensreste für die nächste Mahlzeit auf. Eines Tages kam ein Besucher und sah, dass in seiner Essensschale schon Maden herumkrochen. Er rief: „Das darfst du doch nicht essen!“ Darauf Ryokan: „Nein, nein, das ist in Ordnung! Ich lasse den Maden ohnehin Zeit herauszukriechen und esse erst dann.“
Als Kalligraf griff Ryokan sogar zu einer List, damit er auch anderen Menschen den Wert der Dinge – selbst wenn sie kaputt waren – zeigen konnte. Eines Tages war er bei Freunden eingeladen. Als er sich dem Hause näherte, entdeckte er auf einem Holzhaufen vor der Türe einen hölzernen Deckel für einen Reistopf, der in der Mitte zersprungen war. Er nahm den Deckel vom Müllhaufen herunter, holte seinen Pinsel und die Tusche heraus und schrieb darauf mit wunderbarer Schrift drei Zeichen: Herz – Mond – Kreis. Die Kalligrafie war so formvollendet, dass die Familie den Deckel reparieren und die Schriftzeichen in das Holz einbrennen ließ.
So spiegelt das Leben vieler Zen-Meister die Achtung vor den kleinsten Dingen wider. Der Spruch ist für mich eine schöne Erinnerung für das Handeln Tag für Tag: „In jedem Staubkorn und in jedem Moment leuchtet dieser Wahrheit wundersames Licht.“
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 94: „Ein gutes Leben"
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