Der Soziologe Werner Vogd (Autor des Buches "Welten ohne Grund. Buddhismus, Sinn und Konstruktion") findet im neurobiologischen Konstruktivismus und im Buddhismus viele Gemeinsamkeiten und eröffnet uns dadurch einen anderen Blick auf die Realität.
Was versteht man unter neurobiologischem Konstruktivismus?
Wir sind biologische Wesen, die im Leib verkörpert sind. Es wurde herausgefunden, dass wir mit jedem Gedanken und jeder Handlung unseren Körper und unsere körperlichen Prozesse selbst verändern.
Wie verändern wir uns durch unsere Gedanken und wie wurde dies herausgefunden?
In den Forschungen von der neuronalen Plastizität. Wenn ich ein bestimmtes Verhalten und ein bestimmtes Begehren habe – da sind wir gleich beim Buddhismus –, dann schafft das Begehren eine Bahnung in unseren neuronalen Strukturen.
Wie wirkt sich diese Bahnung aus?
Eine materielle Bahnung sedimentiert sich in den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen. Es entsteht ein bestimmtes Erleben, wie etwa die Gier, die sich dann so weiter bahnt, dass ich immer gieriger werde.
„Wir sind biologische Wesen, die im Leib verkörpert sind.“
Was ist die Kernaussage des neurobiologischen Konstruktivismus?
Wir konstruieren unsere Welt durch unser Handeln und Erkennen. Mit dem, was wir erkennen und sehen, machen wir unsere eigenen leiblichen Strukturen.
Welche Bedeutung haben die Spiegelneuronen?
Durch diese verbinden wir uns ganz automatisch mit den Gefühlen, Handlungsbewegungen und Wünschen der anderen Menschen. Das beginnt schon im Kindesalter. So entsteht eine Sozialisation, also das ‚Wir‘ als soziale Wesen. Der Preis ist, dass wir den Neid, das Begehren und andere unangenehme Prozesse von anderen Menschen auch übernehmen und irgendwann mit uns selbst verwechseln. Durch die Spiegelneuronen sind wir der Gesellschaft und den sozialen Prozessen quasi ausgeliefert.
Wieso setzen Sie Ihre Forschungen mit der sehr alten Religion des Buddhismus in Bezug?
Man kann in dieser alten Philosophie und Psychologie sehr viele Parallelen zum neurobiologischen Konstruktivismus finden.
Wurde also schon vor 2.500 Jahren Ähnliches gedacht?
Ja, das, was damals durch Selbstbeobachtung erkannt worden ist, taucht jetzt wieder im neurobiologischen Konstruktivismus auf.
Gibt es in Ihrer wissenschaftlichen Betrachtung Geist und Materie?
Wir haben scheinbar eine feste Materie, die sich beim genauen Hinschauen als gar nicht so fest herausstellt. Ich bin als Leib eine Flussstruktur. Die Materie fließt immer wieder weg und wird neu aufgenommen. Die Materie, das, was wir als Struktur sehen, ist die Sedimentation, also die Ablagerung von geistigen Prozessen, nämlich von Information. Wenn wir bei Lebewesen die Prozesse der Information organisieren würden, dann würde der Leib sehr schnell auseinanderfallen und wäre kein fester Block.
„Ich bin als Leib eine Flussstruktur.“
Bedeutet dies jetzt das Ende jeglicher Gottesvorstellung in den Religionen?
In meinem System muss es keinen persönlichen Gott geben. Es braucht bloß Materie und Information, die sich fortlaufend selbst instruiert. Dadurch entstehen neue Gestaltungsformen. Das ist jedoch nicht weniger mystisch. Es bleibt ein Geheimnis, warum wir nicht nur einen Körper, sondern einen Leib haben, der alles das fühlt. Wir sind empfindende Wesen.
Haben wir einen freien Willen?
Der Wille ist eine Spannung, die man fühlt, die anzeigt, dass man etwas will. Ich spüre den Impuls, etwas zu wollen, und so entsteht Spannung. Diese Spannung zwingt mich jetzt zu einer Entscheidung. Diese Entscheidung kann ich auch als Wollen empfinden.
Wie kann ich aus dieser bedingten Unfreiheit in ein freies Leben gelangen?
Das ist ein sehr komplexer Prozess. Das Gefühl, etwas haben zu wollen, zieht in eine Richtung. Erst das Gefühl zusammen mit der Kognition bringt uns zum Handeln. Mit Kognition meine ich, dass das Gefühlte eine unheimliche Bedeutung bekommt. Die Verbindung der Empfindungen mit der Bedeutung ist homolog zum Buddhismus. Im Buddhismus haben wir den Pali-Begriff ‚sañña‘ innerhalb der vier Aggregate des Geistes. Es geht hier also nicht nur um die Empfindung, sondern die Bewertung der Empfindung. Viele Menschen, die buddhistische Praxen ausüben, gewinnen Kontrolle über sich und so an Freiheit.
Gibt es einen endgültigen Zustand der Freiheit?
Systemtheoretiker beschreiben, dass über die Reflexion ein Freiheitsgrad kommt, der die alten Strukturen ersetzt. Wir kennen das alle: Eine Beziehung ist auseinandergegangen, das ist schmerzhaft und ich will nicht mehr an den anderen denken. Ich verbrauche dafür viel Energie – und der andere ist dann doch immer da. Es kann aber einen Moment geben, wo das bedeutungslos wird und der Kampf plötzlich weg ist. Da ist auf einmal Freiheit. Etwas Neues kann geschehen. Der neurobiologische Konstruktivismus sagt, jetzt beginnt der Zyklus von neuem. Man lässt sich wieder neu konditionieren.
„Wir sind empfindende Wesen.“
Wie wirkt hier die Meditation?
Die meisten buddhistischen Schulen haben eine stufenweise Didaktik, in der die Einsicht, die Ebene der Freiheit, möglich wird. Es entsteht eine Reflexionsperspektive, wo es natürlich wird, von dem Sinnlichen abzusehen, um dann paradoxerweise die Freiheit zu gewinnen. Die Befreiung, nach den alten Texten, ist die habituelle Einsicht, dass alles vergeht und daher an nichts festzuhalten ist. Diese Sichtweise ist der Wendepunkt. In den Pali-Schriften, der Sprache des Buddha, ist das der Übergang vom weltlichen zum überweltlichen Wissen. Ich würde sagen, das ist eine Reflexionsperspektive, die dann natürlicher wird.
Kann diese Ebene der Erleuchtung oder der endgültigen Befreiung wirklich erreicht werden?
Es werden in den Schriften vier Stadien der Erleuchtung beschrieben. Es gibt aber faktisch niemanden, der wirklich erleuchtet ist.
Ist es vorstellbar, dass man Trauer ohne Anhaftung haben kann?
Der vollkommen Erwachte hat alles abgeworfen. Theoretisch ist das also möglich. Praktisch gibt es nur momenthafte Durchbrüche, Satori-Erlebnisse. Die Ich-Illusion ist durchschnitten, Gier und Hass sind aber noch nicht aufgehoben.
Wären Sie gerne vollkommen befreit?
Für mich ist eher die Übung wichtig, in jedem Moment Freiheit zu gewinnen. Vollkommen befreit zu sein ist jenseits meiner Perspektive.
In der Meditation untersucht man mit seinem Geist den eigenen Geist. Ist also Meditation der einzige Ort im Universum, wo Objekt und Subjekt überwunden sind?
Ich glaube, das ist ein Irrtum. Es ist eher das Rückfallen in die ‚Bedingte Entstehung‘. Man versteht das eigene Entstehungsgeflecht. Es gibt auch einen Samadhi-Zustand, wo man die eigene Körperlichkeit nicht mehr empfindet. Das ist ein virtueller Zustand, der durch bestimmte Übungen hervorgerufen werden kann. Ideal ist es, radikal immanent in dem Beziehungsgeflecht zu sein, in dem wir leben. Meditation versucht, diese Art der Reflexivität zu erreichen. Ein Agieren in der Welt jenseits der Perspektive des Ichs wird möglich. Ich bin dagegen, zu sagen, es wäre nur durch buddhistische Meditation möglich. Wenn jemand weiß, dass er ein soziales, ein biologisches und psychisches Leben hat und genau aus dieser Einheit heraus mit einem Bewusstsein ohne Furcht agieren kann, dann hat er auch eine Art Reflexivität erreicht. Ein Beispiel: Dietrich Bonhoeffer, der deutsche Theologe, der im KZ gestorben ist, hat in seinen letzten Jahren versucht, ein Christentum ohne Religion zu entwickeln. Sein Ausgangspunkt war, dass die Gebete im KZ nicht geholfen hatten, seine Mithäftlinge sind trotzdem umgebracht worden. Bonhoeffer sagte dann, ich bin im KZ, um Mitgefühl mit den anderen zu haben und mit den anderen zu leiden. Das war kein sphärischer Zustand, sondern eine immanente Art von Mitgefühl.
„Der vollkommen Erwachte hat alles abgeworfen.“
Erschafft sich jeder selbst die Welt?
Ich glaube, das ‚Ich erschaffe mich selbst‘ kann leicht missverstanden werden. Man könnte denken, ich mit meinen Gedanken erschaffe die Welt. Ich sehe es anders, das, was ich als Ich oder als mein Sein empfinde, ist schon im Vorhinein im Beziehungsgeflecht der ‚Bedingten Entstehung‘ entstanden.
Haben Ihre wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse Auswirkungen auf das reale Leben?
Die Erkenntnisse sind im realen Leben anwendbar. Etwa darauf zu achten, dass das, was vermeintlich das Ich ist – auch Gefühle oder Denkweisen –, möglicherweise nicht ‚ich‘, sondern die Gesellschaft ist. In der westlichen Welt haben wir die Intuition verloren, dass wir ‚besessen‘ sein können. Im tibetischen Kontext ist es einfach klar, wenn Menschen depressiv sind, dann sind sie von Geistern besessen. ‚Geister‘ sind Informationen, die in den Leib hineingehen und dort bleiben. Ein Beispiel: Ich höre Nachrichten, die mich deprimieren. Ich vergesse aber, dass es die Nachrichten waren, die mich depressiv gemacht haben. Diese Information, die mein Körper unbewusst aufgenommen hat, bezeichne ich als Geist. Geister dringen in einen ein und führen dann ein Eigenleben. Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass man nicht weiß, dass es Geister sind, man verwechselt sie mit dem Ich.
Wie kann ich mich von diesen Geistern befreien?
Die erste therapeutische Einsicht ist, erstmals die Geister zu erkennen. Zu begreifen, dass diese Geister in die leibliche Struktur hineingekommen sind, ohne dass man es gemerkt hat. Die zweite Einsicht ist, dass es eine Form des ‚Selbst‘ gibt, die nicht mit dem ‚Ich‘ verwechselt werden sollte. In der Meditationspraxis, bei der Reflexion der Empfindungen, merkt man: Ich bin durch die Nachrichten depressiv geworden. Plötzlich sieht man, ich brauche keine Angst zu haben oder depressiv zu sein. Es entsteht plötzlich ein Moment der Freiheit.
Ist Denken ein materieller Prozess? Wer denkt?
Es ist der Prozess selber, der denkt. Es ist ein materieller und geistiger Prozess. Es denkt. Das ‚Es‘ ist das Bedingungsgeflecht der ‚Bedingten Entstehung‘. In der Regel denkt man etwas, das früher gewesen ist oder rekombiniert es neu. Dann brauche ich ‚was denkt‘ nicht mit mir selbst zu identifizieren.
Sie sagen, es ist schwierig, sich vom Massendenken zu befreien. Wie können freie Gedanken entstehen?
Es muss eine Perspektive sein, die nicht den eigenen Emotionen erliegt. Das ist schwierig und setzt viel voraus, Reife und eine Reflexionsfähigkeit, alles wahrzunehmen. Ein ‚Widerstandsgeist‘ hat zum Beispiel freie Gedanken. Da entsteht aus der Bedingung und der Unterdrückung des Ärgers eine zweite Position, die sozusagen der Widerstand generiert hat. Es gibt eine zweite Art, zu freien Gedanken zu kommen. Das zeigt sich am Beispiel von Dietrich Bonhoeffer. Aus Mitgefühl, aus der Reflexion heraus, sind in ihm freie Gedanken entstanden. Wenn man das harte Beispiel des Dritten Reichs nimmt, ist das ein sehr seltener Fall.
„Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass man nicht weiß, dass es Geister sind, man verwechselt sie mit dem Ich.“
Hatten Menschen jener Zeit also, bis auf Ausnahmen, gar keine Chance, ihr falsches Handeln zu erkennen?
Das zu sagen ist eine gefährliche Sache. Es soll nichts hingenommen werden. Es ist wichtig, die Täter zu verurteilen, um klarzumachen, dass das gesellschaftlich nicht in Ordnung war. Das Verbrechen bleibt aber in der eigenen Struktur drinnen. Der Täter trägt die Tatstruktur in sich. Er kann diese jedoch nicht sehen, weil er sich dann selber als schuldig oder besessen sehen müsste. Das ist die Tiefendimension. Auf der Oberflächendimension ist es vollkommen richtig, Täter ins Gefängnis zu sperren. Auf der Tiefenebene ist er besessen worden.
Was Sie jetzt sagen, ist sehr erschütternd, ist es möglich, da auszusteigen?
Bei Genoziden hat der Einzelne die theoretische Möglichkeit, aus diesem Massendenken auszusteigen, aber die Mehrheit der Masse ist verloren. Damit ist aber nicht aufgehoben, dass es trotzdem immer wieder darum geht, Heil und Versöhnung zu finden. Diese Geister können über Generationen weit getragen werden. Wir existieren in einer Geschichte von wahnsinnigem Leid. Man sucht Befreiung, in der die Geister endlich verschwinden.
Wird es lange dauern, bis wir in einer befreiten Welt leben?
Wir häufen ständig neue Geister an. Das kann man an der gegenwärtigen Flüchtlingsproblematik erkennen.
Was kann jeder Einzelne tun?
Für das eigene Seelenheil sorgen und schauen, ob man sich von Geistern befreien kann.
Der abgedruckte Text stimmt mit dem geführten Interview nicht gänzlich überein. Die Änderungen wurden durch Univ.-Prof. Dr. Werner Vogd autorisiert.
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