Die spirituelle Suche ist bei uns zum Massenphänomen geworden. Was suchen wir denn eigentlich? Und warum müssen wir dafür so weit reisen? Der spirituelle Reisewahn begann mit den christlichen Missionaren. Sie waren die ersten echten spirituellen Abenteurer.
Sie kamen aus Westfalen, Angeln, Sachsen oder dem Erzgebirge; aus überall in Europa. Weltfremde, absurd tiefgläubige Menschen, die den ‚Negern', ‚Schlitzaugen' und ‚Halb-Mensch-halb-Tier-Wesen' – so schrieben sie über die zu Missionierenden – den rechten Glauben eintrichtern wollten.Es war Zeit für die Zwangsbeglückung der dunklen, unerleuchteten Seite der Welt. Also zogen sie aus, Gottesfurcht zu lehren.
Die meisten dieser Religions-Botschafter starben schon auf dem Weg zum Ziel. Andere wurden vor Ort umgebracht, gequält, gefoltert und wer besonderes Pech hatte, gekocht, gesotten und verspeist. Die, die irgendwie überlebten, waren von einer nicht zu bändigenden Sehnsucht gepackt, die Welt zu verändern. Diese spirituellen Enthusiasten wussten, dass es eine höhere Instanz gibt. Einige von ihnen hatten sogar Momente vollkommener Einheit genossen, spirituelle Glückseligkeit erfahren und eine religiöse Infrastruktur zur Basis, die keinen Zweifel an Christus' alleiniger Allmacht ließ.
Die alten Missionare exportierten, wir – die neuen Enthusiasten – importieren.
Dank ihres Fanatismus waren die Missionare trotz aller Unbill erfolgreich. Große Teile Afrikas, Amerikas und Asiens sind bis heute christlich; teilweise legen die Menschen dort ihren Glauben strenger aus als in den Mutterländern der einstigen Heilsbringer. Eine Saat namens Sehnsucht wuchs nun auf allen fünf Kontinenten. Wer seitdem auf spirituelle Reisen geht, will immer noch missionieren und folgt einer nicht zu bändigenden Sehnsucht nach einer besseren Welt. Die alten Missionare exportierten, wir – die neuen Enthusiasten – importieren. Wir holen unseren Glauben aus der Fremde und verbreiten ihn in der Heimat. Wir fahren jetzt die Sehnsucht ein; wir – damit meine ich mich und neunundneunzig Prozent der Suchenden unserer Zeit. Wir reisen in Ashrams nach Indien, Kibbuzim in Israel, spirituelle Gemeinschaften in Europa oder Amerika. Wir singen auf Sanskrit oder gar Pali, hören Volksmusik (indische – nicht deutsche), zitieren Weisheiten fremder Erleuchteter, versuchen, die Welt und unser Selbst durch Zahlen-Mythologie, Persönlichkeitsschubladen wie das Enneagramm oder Tarot-Karten, Glaskugeln, Edelsteine und Zauberstäbe zu erklären. Wir finden neue Freunde, verlassen unsere alten, kehren Familie und Job den Rücken und suchen in der Fremde, was uns in der Heimat verloren gegangen ist. Wir suchen sehnsüchtig fremde Welten auf, um unsere Sichtweise auf uns und unsere Gesellschaft besser erklären zu können. Damit wir den Westen kritisieren und im Idealfall reformieren können. Wir möchten als besonders spirituell gelten, erhaben sein und uns besser fühlen als die, die nicht suchen. Genau wie die Missionare. Die spirituelle Suche ist heute so egobelastet, größenwahnsinnig, verlustreich und im wörtlichen Sinne verrückt wie damals. Doch genau wie das Missionieren irgendwann Erfolge brachte, breitet sich dank der reisenden Suchenden bei uns spirituelles Denken und buddhistisches Handeln aus. Durch uns verändert sich die Welt tatsächlich. Wir importieren das Gute und werden bessere Menschen. Unser Reisen hat sich offenbar gelohnt. Mittlerweile müssen wir spirituelle Bücher bei Familienbesuch nicht mehr in zweiter Reihe verstecken. Wir geben zu, dass wir meditieren, und bekommen dafür sogar Anerkennung und Respekt von Menschen, die dies früher kategorisch abgelehnt hätten. Wir lernen fremde Musikinstrumente und werden darin recht schnell erfolgreich. Wir haben gefunden, was wir suchten: Glück – und sei es nur temporär. Die Sehnsucht können wir vorübergehend stillen. Mehr konnten wir nicht erwarten. Wir reisen immer tiefer in die Welten der Spiritualität, missionieren, meditieren und machen den Eindruck, ein bisschen von dem Glück gefunden zu haben, das alle suchen. Also finden wir Nachahmer. Die Welt wird Stück für Stück ein bisschen spiritueller.
Die spirituelle Suche ist heute egobelastet, größenwahnsinnig, verlustreich und verrückt.
Die Nicht-Sucher begreifen langsam, dass es einen alternativen Weg zu Macht, Geld und Sex geben muss. Denn Macht, Geld und Sex machen nicht mehr glücklich. Davon besitzen sie nämlich im Überfluss und leiden trotzdem. Deshalb wachsen in unserer Gesellschaft das Leiden und das spirituelle Bewusstsein parallel. Zunächst begab sich die höhere Mittelschicht auf spirituelle Reisen. In Ashrams meditierten plötzlich Abteilungsleiter großer deutscher Autohersteller, im Kibbuz standen Pharma-Referenten am Herd, in Vipassana-Hallen saßen Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten im Schneidersitz und spürten, dass es etwas gibt, das jenseits des gesellschaftlichen Erfolgs liegt, kaum zu beschreiben ist und sich vor allem besser anfühlt als ihr neues Auto. Manager gingen in Klöster, Banker bekamen beigebracht, dass es nur das Hier und Jetzt gibt, und Politiker wanderten durch spanisches Hügelland und glaubten, damit Wähler zu gewinnen. Wer sich nicht in Yoga übte, war fast schon out. Wer noch nie Wellness in Asien gemacht hatte – ein Barbar. Wer mit dem Einmaleins der spirituellen Weisheiten nicht vertraut war, dem war auch nicht mehr zu helfen. Als nächsten Schritt erreichte die Spiritualität sämtliche Schichten unserer Gesellschaft und wurde zum Massenphänomen. Prompt nahm das Ganze überhand; wie bei den alten Missionaren wuchs die spirituelle Beflissenheit auf unerträgliche Weise an. Genau wie damals heiligte der Zweck die Mittel. Die Ultra-Spirituellen versauten das neue Lebensgefühl schon wieder, diejenigen, deren Erfolgs-Ego die spirituelle Welle ritt. Die behaupteten, sie würden nicht mehr planen (weil es ja nur das Hier und Jetzt gibt), die in jedem zweiten Satz spirituelle Weisheiten zitieren mussten („Der Tod gehört zum Leben dazu"), die Steinchen mit weisen Gravuren auf Simse stellten, indisch gekleidet waren, pausenlos Räucherstäbchen entzündeten und besonders lang und gütig blinzelten, um ihre tiefe Verbundenheit zu demonstrieren (wieso begreifen sie nicht, dass diese Verbundenheit nie verloren gehen kann?). Es sind diese Typen, die schon vorher in ihren Firmen und Familien egoman handelten und nun ihre Spiritualität zur Schau tragen und damit andere tyrannisieren.
Die Alt-Spirituellen von vor der Massenbewegung gehen jetzt einen Schritt weiter. Sie haben erkannt, dass das Spiri-Ego eher abschreckend wirkt. Also bauen sie ein Anti-Spiri-Ego auf, um sich von den Neo-Spiris abzugrenzen: Sie sagen, dass sie Materielles lieben (als Antwort auf die Neo-Spiris, die angeblich dem Konsum abgeschworen haben), sie halten absichtlich an ihren Macken fest und glauben somit, besonders authentisch zu sein (Loslassen ist out, überholt und überstrapaziert), sie nehmen wieder Zigaretten, Alkohol und Drogen zu sich, weil sie ansonsten spirituell abdrehen würden.
Wir befinden uns also gerade in einer Phase der totalen Verwirrung. Spirituell zu sein ist schon wieder out. Egal, ob neo oder ultra. Das Feld überlassen wir lieber Qigong-Hausfrauen, Reiki-Omas und Manager-Yogis. Nicht-spirituell zu sein geht aber auch nicht mehr. Ein Zurück gibt es nicht. Wir erkennen sogar, dass unsere größten Idole bröckeln – Eckart Tolle beispielsweise schreibt aus unserer jetzigen Sicht eine Murks gewordene Wahrheit: Um in der Kraft der Gegenwart zu reisen, müssen wir unseren analytischen Verstand und das falsche, von ihm erschaffene Selbst, das Ego hinter uns lassen. Reisen Sie mal ohne Ihr Ego – das geht nicht. Wie auch? Also bringt's das Reisen auch nicht mehr. Intellektuell verstehen mittlerweile alle, wovon die Meister reden. Sie schaffen es nur leider nicht, deren Ideal umzusetzen (Tolle und Konsorten übrigens auch nicht). Und da wir das Unmögliche dieses Unterfangens – zumindest unterbewusst – erkennen, fangen wir an, so zu tun, als kämen wir dem Ideal näher. Und hier liegt der Schlüssel zum Erfolg: Wir spielen so lange den Gutmenschen, bis wir tatsächlich besser werden. Wir handeln bewusster als zuvor, wir versuchen, anderen von Nutzen zu sein, wir setzen unsere Eigenschaften, Fähigkeiten, unseren Verstand und Körper und unser Handeln zum Wohle aller ein. Dies tun wir zunächst aus rein spirituell egoistischen Gründen. Doch früher oder später greift bei den meisten von uns das Gesetz der Anziehung. Wir ziehen das Gute an, das Bewusste, das, wonach wir spirituell vergeblich gestrebt haben.
Die Welt wird Stück für Stück ein bisschen spiritueller.
Es ist das gleiche Prinzip wie damals bei den christlichen Missionaren. Nicht der Glaube brachte die Wilden dazu, dem christlichen Gott zu folgen, sondern der gestiegene, zivilisierte Lebensstandard, der eine erfreuliche Ernte garantierte, bessere Hygiene, höhere Lebenserwartung und damit insgesamt mehr Zufriedenheit. Nur darum ging und geht es: Zufriedenheit. Da diese höhere Zufriedenheit dem neuen Gott zugeschrieben wurde, fingen die Unchristen an, Christen zu werden, zu beten und einem Gott zu huldigen, der von einer Jungfrau geboren wurde. Heute folgen immer mehr Menschen einer spirituellen Lebensweise, weil sie tatsächlich sehen, dass wir angenehmere Menschen geworden sind, ruhiger und besonnener handeln und mehr Verständnis zeigen. Und wenn uns jemand nach unserer persönlichen spirituellen Entwicklung fragt, erzählen wir von unseren Seminaren, Übungen und Reisen. Die Folge ist ganz einfach: Wir werden kopiert. Plötzlich machen auch die, die bisher nichts mit Spiri-Kram zu tun haben wollten, Wellness-Urlaube mit Spiri-Touch, sie buchen Erleuchtungsseminare in Indien und machen Traum-Yoga auf Bali, um endlich das zu finden, wovon diese veränderten Menschen in ihrer Umgebung berichten: die Erleuchtung. Wenn so viele Menschen meditieren und Yoga machen, müssten wir uns doch wirklich weiterentwickelt haben und in ein neues Zeitalter eintreten. Das Zeitalter, in dem Menschen zum Wohle aller anderen leben. In dem sich die Menschheit als eine große Gemeinschaft sieht. Die erkennt, dass das Leben als gewaltiger, ewig lebendiger Datenstrom in einer göttlichen Sphäre erscheint. Eine neue Erde – siehe Tolle – klingt so verlockend und so schön. Ist aber totaler Quatsch. Genau wie der Unsinn, den die Missionare vor ein paar Jahrhunderten gepredigt haben. Sie haben zwar das Christentum verbreitet, aber nicht zur menschlichen Evolution beigetragen. Wir würden heute niemals behaupten, dass die Verbreitung des christlichen Glaubens zur Befreiung der Menschheit geführt hätte. Die Bekehrten fanden Halt in ihrer neuen Religion und mehr materielle Sicherheit und Zufriedenheit. Befreiung oder Erlösung fanden sie nicht. Die Situation ist mit heute vergleichbar: Wir finden Halt in der buddhistischen Psychologie, in einer neuen Erziehung des menschlichen Seins, wir erkennen unseren überwältigenden materiellen Überfluss und gewinnen mehr Zufriedenheit. Doch die Erleuchtung, die als Über-Zustand aus der Fremde importiert werden sollte, erreicht niemand. Und wissen Sie, warum? Weil es sie einfach nicht gibt. Genauso wenig wie die Erlösung oder die Auferstehung oder sonstige religiös-spirituelle übernatürliche Phänomene.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 91: „Mit Buddha zum Glück"
Insgeheim wissen wir das alle! Und trotzdem: Wir suchen weiter. Es wäre so schrecklich, nicht mehr zu suchen. Sich eingestehen zu müssen, dass es nichts zu finden gibt. Dass wir wieder nur erfundenen, fremden Idealen hinterherlaufen, Geld, Zeit und Energie investiert haben, ohne je das Höchste erreicht zu haben oder erreichen zu können. Dabei geht es uns doch schon besser mit dem neuen Glauben! Immerhin haben wir verstanden, dass materieller Reichtum zu nichts führt. Also kaufen wir uns kein neues Auto, sondern gehen lieber auf Reisen und suchen die Befreiung von unserem alten Ich in der Ferne. Wir verzichten auf den schicken Carport, machen ein Jahr Urlaub und begeben uns auf die Suche. Wir lassen dem Kollegen den Vortritt bei der Beförderung und ruhen mit dem Status quo. Wir haben verstanden, dass wir unser Leben nicht dem Konsum und den Idealen einer ziemlich verrückten Gesellschaft opfern müssen. Wir können befreit unser Leben leben. Mehr haben wir nie gewollt. Und hätten nicht die Spirituellen vorgemacht, dass es ein Leben jenseits der Norm gibt, wären die wenigsten von uns auf diesen neuen Lebensstil gekommen. Die ‚Wilden' waren damals vermutlich auch froh, dass sie keine Opfer mehr bringen mussten, dass sie von einem gütigen, ‚lieben' Gott gelenkt wurden, dass es Ideale jenseits ihrer uralten Strukturen gab und ein Leben in Nächstenliebe und Freude. Es war ein gewaltiger Schritt für die Völker der Welt. Diesen Schritt machen wir jetzt auch. Und wir lassen uns nicht mehr aufhalten.
Nach so einer Falschmeldung, habe ich gar nicht mehr weitergelesen.
Die Art der Missionare, die hier beschrieben wird, ist eine neuzeitliche Erscheinung. Was davor war - innerhalb wie außerhalb Europas - wird einfach nicht erwähnt.
und nein, danach hab ich auch nicht mehr weitergelesen.
J.W.Goethe