Ein Zen-Schüler fragt seinen Meister: „Was unterscheidet den Zen-Meister von einem Zen-Schüler?“ Der Zen-Meister antwortet: „ Wenn ich gehe, dann gehe ich . Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.“
„Wieso? Das mache ich doch auch.“
Der Zen-Meister antwortet: „Wenn du gehst, denkst du ans Essen und wenn du isst, dann denkst du ans Schlafen. Wenn du schlafen sollst, denkst du an alles Mögliche. Das ist der Unterschied.“
Diese in populären Sammlungen von Zen-Geschichten oft enthaltene Episode zeigt anschaulich, worum es geht. Es klingt so einfach und ist doch so schwer. Nämlich sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Körper genau bei der Sache zu sein, die man tut. Den ganzen Tag lang.
Wir leben in einer komplexen Welt. Wie sieht gewöhnlich ein durchschnittlicher Tag aus? Sie werden vom Wecker in den Tag gerissen, frühstücken schnell, um nicht zu spät in die Arbeit zu kommen. Dort wechseln sich Besprechungen mit Computer-Arbeit ab. Dazwischen noch schnell einen Happen vom Bäcker gegessen und dann wieder nach Hause, um Kinder-, Haushalts- und Beziehungsarbeit zu erledigen.
Nun kann es sein, dass Sie inmitten dieses verrückten Lebens die obige Zen-Geschichte lesen. „Diese Idee hat was“, finden Sie und Sie beschäftigen sich ein wenig mehr damit. Sie kaufen sich ein Buch über ‚Achtsam leben’ und versuchen, bei manchen Tätigkeiten besonders aufmerksam dabei zu sein. Sie nehmen sich vor: „Wenn ich am Computer schreibe, schreibe ich. Wenn ich im Restaurant esse, dann esse ich.“
Tun Sie das wirklich? Sie sitzen zum Beispiel am Computer und sollen eine Präsentation vorbereiten. Wer kennt nicht die vielen kleinen Strategien, die Sie hindern, sich ganz einer Sache widmen zu müssen? Sie stehen auf und holen sich einen Kaffee. Dann sitzen Sie wieder am Computer. „Noch schnell die neuesten Mails abrufen, damit ich up to date bin.“ Oder: „Dazu sollte ich noch im Internet schnell etwas recherchieren.“ Und ja: „Wenn ich schon im Internet bin, kann ich gleich nochmals den Fahrplan checken, wo ich am Nachmittag hin muss.“ In dieser Situation merken Sie am deutlichsten, dass Sie eigentlich etwas ganz anderes machen, als Sie sich vorgenommen haben. So durcheinander sieht es gewöhnlich den ganzen Tag lang auch in Ihrem Kopf aus.
Das bemerken viele Menschen zum ersten Mal, wenn sie Zen kennenlernen und versuchen, sich in gerader Sitzhaltung auf ihren Atem zu konzentrieren. Es wird ihnen bewusst, dass ihre Gedanken in assoziativen Ketten verlaufen und dass es ihnen extrem schwerfällt, sich zu konzentrieren. Sie können nicht ‚nur sitzen’, wenn sie sitzen. Ihr Geist schweift andauernd ab.
Unklares Wort Achtsamkeit
Gewöhnlich wird der Zustand, in dem man vollkommen im Hier und Jetzt ist, Achtsamkeit genannt. Im Zen wird das Wort Achtsamkeit häufig so gebraucht, dass man achtsam gegenüber der Tätigkeit sein soll, die man gerade verrichtet. Ich bin ganz im Gehen oder ich bin achtsam in der Arbeit, beim Hoffegen, Fensterputzen oder beim Zuhören. Viele Ratgeber, die jetzt am Markt sind, gehen in diese Richtung, so dass man schon fast von einem Achtsamkeitstrend sprechen kann. Die Bücher von Eckhart Tolle und von Thich Nhat Hanh gehen in diese Richtung. Manche Autoren empfehlen achtsamkeitsbewussten Menschen beispielsweise, einzelne Stellen in ihrem Büro mit einem roten Punkt zu markieren, die sie quasi immer wieder daran erinnern, in den gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren. Wenn sie auf die Klinke mit dem roten Punkt greifen, halten sie inne und spüren den Moment. Bevor sie zum Telefon greifen, halten sie inne. Jedoch achtsam sein, innehalten und aufmerksam sein ist nicht das Gleiche. Und doch wird alles in einen Topf geworfen.
Für Zen scheint mir daher das Wort ‚Achtsamkeit’ unpassend. Aus drei Gründen:
Erstens: Es ist nicht eindeutig. Das Wort Achtsamkeit bedeutet in anderen Traditionen Aufmerksamkeit auf innere Prozesse. Man wendet sich inneren Gefühlen, Gedanken oder auch körperlichen Abläufen und Organen zu. Im therapeutischen Kontext hat der amerikanische Arzt Jon Kabat-Zinn diese Methode (MBSR) zur Stressbewältigung mit großem Erfolg angewandt. Das macht man in der Zen-Tradition nicht.
Zweitens: Das Wort ‚achtsam’ braucht ein Objekt. Man ist achtsam auf etwas, bei etwas. Schon das althochdeutsche Wort ‚ahta’ bedeutet ‚Aufmerksamkeit, Fürsorge und Beachtung’. Das heißt, man nimmt sich vor, sich zu konzentrieren und im Moment bei dem zu sein, was man tut.
Im Zen geht es NICHT darum, willentlich in den Moment zu kommen. Willentliche Achtsamkeit mag eine gute Übung sein, aber es ist nicht Zen, wie es von China über Japan zu uns gekommen ist. Zen ist der Weg, jegliche Dualität zu überwinden. Sobald Sie sagen: „Ich gehe achtsam“, beinhaltet dies die Dualität zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen der Ratio und Ihrem Willen und dem Körper, der diese Tätigkeit ausführt.
Drittens: Im Wort achtsam schwingt häufig die Assoziation vorsichtig, zurückhaltend mit. Achtsames Gehen ist langsames Gehen. Achtsames Sprechen bedeutet dann: auf den anderen achtend, bevor man spricht. Hier ist ebenfalls die Ratio vorherrschend: Ich halte mich zurück zugunsten meines Gesprächspartners.
Hätten Sie den alten Zen-Meister Rinzai (9. Jahrhundert) gefragt: „Was ist Achtsamkeit?“, dann hätten Sie 30 Stockhiebe eingesteckt, eine bewährte chinesische Methode, um in den Moment zu kommen. Da haben keine Gedanken mehr Platz. Kein Denken an Achtsamkeit.
Die Dualität überwinden
Was ist nun ‚Achtsamkeit’ im Zen? Jede Übung innerhalb eines Sesshin (intensives Zen-Training, meist sieben Tage lang) hat den Zweck, die Dualität zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Körper und Geist zu überwinden und damit mit Haut und Haaren ‚in den Moment’ zu kommen. Das beginnt beim Meditieren im Sitzen, bei dem die Gedanken durch die Konzentration auf den Atem weniger werden, im Gehen und in allen anderen Verrichtungen. Vieles wird mit großer Geschwindigkeit und Energie durchgeführt, wie beispielsweise die Arbeitsmeditation.
Da setzt man seinen ganzen Körper und seine volle Kraft und Konzentration ein, um mit dem Putzen, Fegen und Kochen eins zu werden. In japanischen Klöstern gibt es daher den ganzen Tag lang nur entweder Sitzen – beim Meditieren – oder Laufen – bei allen Tätigkeiten außer dem Meditieren. Was ist der Grund? Beim langsamen Gehen verliert man sich sehr leicht in einem Zustand, wo Körper und Geist wieder auseinanderdriften und man seinen Gedanken nachhängt.
Nur durch konzentrierte Meditation kommt man in jene tiefe Versenkung, wo die Grenzen zwischen ‚Ich’ und ‚Du’ aufgehoben sind, wo die Bäume aufleuchten und der Himmel unermesslich groß ist. Wo Sie nicht auf die anderen achten müssen und doch auf die anderen achten, weil Sie in tiefer Weise mit ihnen verbunden sind. Wo Sie immer mehr in das Jetzt kommen, in einen Zustand, in dem Sie sich tief verwurzelt und doch verbunden fühlen. Dann wird am Tisch das Salz weitergereicht, weil jemand es braucht, ohne zu schauen und ohne nachzudenken. Dieser Zustand hält einige Zeit nach der Trainingsperiode (Sesshin) an, wenn Sie in die Welt zurückkehren. Doch diese unsere Welt unterstützt diese Einheit nicht.
Die früheren Zen-Mönche sind nach dem Sesshin wieder in die Klause auf dem Berg zurückgekehrt. In die Stille, in der es keine Autobahnen, Computer und iPhones gab. In unserer Welt ist es deshalb unsinnig, mit dem Kopf Achtsamkeit zu praktizieren. Wenn Sie tatsächlich in der Lebendigkeit des Moments sein wollen, gibt es im Zen nur einen Weg: sitzen, sitzen, sitzen – damit man ‚nur sitzt’, wenn man sitzt, schläft, wenn man schläft und isst, wenn man isst.
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