Michael Zimmermann ist seit 2007 Professor für indischen Buddhismus am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg. Nach einem Studium der klassischen Indologie, Tibetologie und Japanologie wurde er promoviert mit einer Arbeit zum Ursprung der Lehre von der Buddha-Natur in Indien. Weitere Stationen waren Kyoto, Tokio, Kathmandu sowie die Universität Stanford.
Seine Forschungsinteressen sind der indische Mahayana-Buddhismus, speziell dessen textgeschichtliche Erforschung, basierend auf den kanonischen Texten in Indien, Tibet und China. Ferner beschäftigt er sich mit Fragen buddhistischer Ethik wie dem Verhältnis des Buddhismus zu Staatsführung und Gewalt. Auch moderne Entwicklungen in asiatischen und westlichen Formen des Buddhismus werden einbezogen.
Ich möchte gleich eine Schlüsselfrage stellen: Gibt es den Buddhismus?
Eigentlich nicht, oder? Mit dieser Frage beginne ich auch immer meine Vorträge. Den Buddhismus gibt es gar nicht! Man muss immer konkret sein, über welche Zeit und über welche geografische Region man sprechen will. Wenig hilfreich ist auch diese plumpe West-Ost-Differenzierung. Asien ist ein riesiger Raum. Was heutzutage in Asien in buddhistischen Gruppierungen passiert, ist dynamisch und wahnsinnig spannend. Das nehmen wir im Westen oft gar nicht wahr, weil wir nur mit uns selbst beschäftigt sind.
Sind die Entwicklungen in Asien auch inspiriert von westlicher Interpretation der Buddha-Lehre?
Ganz sicher. Und das nicht erst in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren, sondern durch europäische Kolonialherrschaft bereits vor 100 oder 200 Jahren. Aber diese Frage ist ja auch schon wieder eurozentriert. In Asien, speziell Taiwan, sehen wir viele Entwicklungen aus eigenen Ressourcen, aus ihren eigenen geschichtlichen Besonderheiten.
Buddhismus im Westen differenziert sich derzeit in einen eher traditionellen Teil, hier ist tibetischer Buddhismus ganz vorne, und einen säkularen. Säkulare versuchen oft, einen Buddhismus zu destillieren, der ohne kulturellen Ballast auskommt. Dieser wird als störend empfunden.
Ich denke nicht, dass ein Buddhismus unabhängig von Regionalkultur möglich ist. Das fängt bei der Person Buddhas an und bei der Sprache, die er gebrauchte. Buddha war Inder und hat in einem bestimmten indischen Dialekt gelehrt. Wer Sprache benutzt, legt sich kulturell fest. Insofern ist die Idee, sich von einem „Ballast“ indischer Kultur befreien zu wollen, ein unmögliches Unterfangen.
Gleichzeitig ist auch klar, dass sich Religion ständig wandelt. Wenn Buddhismus heute wie vor 2.500 Jahren oder vor 1.500 Jahren wäre, würde sich kein Mensch für ihn interessieren. Buddhismus hätte dann keine Antworten auf die Fragen der Menschen heute. Buddhismus ist im Westen deshalb auch wieder kulturell angereichert, nur eben mit westlicher Kultur. Und das ist legitim.
So wie es aussieht, hat der Buddhismus im Westen seinen ersten Boom hinter sich. Nach der Yoga-Welle hat derzeit MBSR einen starken Zulauf. Was muss geschehen, damit Buddhismus im Westen nicht zu einem Sterbefall wird?
Wenn die Hauptaussagen weiterhin heißen: „Leben ist Leiden“, „Die Welt ist schlecht“ und „Wir wollen hier raus“, dann glaube ich, wird es schwierig werden für den Buddhismus im Westen. Wir können das sehr schön am aktuellen Achtsamkeitsdiskurs sehen. Achtsamkeit kommt aus dem Buddhismus, wird hier aber nicht als Mittel gesehen, Samsara, also den angenommenen immerwährenden Zyklus des Seins, zu überwinden. Achtsamkeit stellt diese Idee, die als ursprünglich buddhistisch gilt, auf den Kopf und ist jetzt ein Mittel, um besser im Samsara klarzukommen. Und das ist okay. Hier sehen wir, wie flexibel der Buddhismus ist.
Lassen Sie uns über die textlichen Überlieferungen sprechen, auf die sich viele Buddhisten beziehen. Im Westen ist der Pali-Kanon das populärste Werk. Manche Buddhologen halten ihn für komplett hagiografisch. Er enthalte keine historischen Wahrheiten, sondern lediglich nachträglich erdichtete Geschichten, um den Religionsgründer zu glorifizieren. Wie sehen Sie das?
Ich bin sehr skeptisch, ob man wirklich herausfinden kann, was der Buddha, wer auch immer er war, gesagt hat. Hat er überhaupt existiert? Wir wissen es nicht. Ich hörte einmal einen Mönch in Sri Lanka sagen: „This comes from the golden lips of our Lord Buddha“, „Dies kommt aus dem goldenen Mund unseres Herrn Buddha“. Da dachte ich mir: ‚Na ja, jetzt sage ich lieber nichts, weil ich seine religiösen Gefühle nicht verletzen will.‘ An den Buddha kommen wir nicht mehr heran und auch nicht an die früheste Gemeinde.
Nehmen wir Buddha als historische Person an, dann hat er, wie schon gesagt, in einem altindischen Dialekt gesprochen. Bis zur schriftlichen Fixierung musste es mindestens zwei Übersetzungsszenarien gegeben haben: laut dem Linguisten Oskar von Hinüber vom Ursprungsdialekt in einen uns unbekannten Dialekt und dann ins Pali.
400 oder 500 Jahre dauerte es bis zu den ersten Texten. Versetzen wir uns heute so weit zurück, wären wir im 15. Jahrhundert. Lesen Sie mal in alten Kirchenbüchern aus dem 17. Jahrhundert. Das ist schon fast unverständlich, finde ich. Wenn Sie das verstehen wollen, müssen Sie eine umfassende Interpretationsarbeit leisten. Und wer weiß, wie nah diese Deutungen dann noch am ursprünglich Gesagten sind.
Ich würde aber auch nicht behaupten wollen, dass alles, was wir im Pali-Kanon finden, nichts mit dem Buddha zu tun haben könnte. Das ist nicht wahrscheinlich. Man muss jedoch vorsichtig sein, wenn man den Versuch unternimmt, zu rekonstruieren, was Buddha wirklich gelehrt hat.
Gibt es nicht aber so etwas wie eine Essenz des Buddhismus?
Buddha ist in Nordostindien herumgewandert und hat Gemeinden gegründet. In ihnen haben sich bestimmte Führungsfiguren herausgebildet, besonders charismatische Lehrer, vielleicht auch Lehrerinnen. Jeder hatte eine eigene Auslegung der Lehre. Ab und zu ist der Buddha vorbeigekommen und hat sich das angehört. Einen Standardisierungsprozess hin zu bestimmten Dogmen wird es nicht gegeben haben.
Damit haben wir schon zu Zeiten des Buddhas den Ansatz zu unterschiedlichen Ideen im Buddhismus. Ich würde sagen, wahrscheinlich war in der Frühzeit des Buddhismus nicht eine einzige Interpretation der Lehre maßgeblich. Es gab unterschiedliche Interpretationen. Der eine Lehrer war der Auffassung, dass es Wiedergeburt gibt, diese aber nicht so wichtig sei. Für den anderen spielte Wiedergeburt keine Rolle, während ein weiterer vielleicht genau darin das Wichtigste sah. Insofern würde ich Ihre Frage mit Nein beantworten.
Ist es möglich, dass Buddha selbst bereits seine Lehre während seiner Lebenszeit modifizierte? Er könnte am Anfang etwas anderes gelehrt haben als am Ende.
Religiös geprägte Buddhisten würden diesen Gedanken sicher strikt von sich weisen. Buddha sei erwacht gewesen. Mit dem Erwachen war dann alles an spirituellem Wissen da. Es kam nichts mehr hinzu. Aber jetzt mal ganz ehrlich: Wenn man vierzig Jahre unterrichtet und selbst keine Fortschritte macht und nichts dazulernt, wäre das nicht traurig?
Insofern denke ich, man muss dem Buddha schon zugestehen, dass er eine Entwicklung durchgemacht hat. Er befand sich ja auch immer in Auseinandersetzung mit anderen Gruppierungen, und da hat er bestimmt Dinge dazugelernt. Die Frage ist, wie man den Buddha sieht. War er ein Mensch oder ist er irgendwie göttlicher Natur? Glaubt man Letzteres, braucht man selbstverständlich nicht mehr zu diskutieren.
Und die verschiedenen Sichtweisen setzen sich in der Gegenwart fort.
Zimmermann: Ganz richtig. Ich war viel in Asien unterwegs und immer fasziniert, wie unterschiedlich sich der Buddhismus ausgeprägt hat. Als ich als junger Mann nach Japan kam, traf ich einen hochrangingen Jodo-Priester. Damals war ich sehr stolz, Buddhist zu sein und erzählte das dem Priester und ergänzte, dass ich Vegetarier sei. Das gehörte in den Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, selbstverständlich dazu. Als Buddhist durfte man kein Fleisch essen.
„Oh, das ist aber nicht so gut“, antwortete der Priester. „Wenn du auf Fleisch verzichtest, ist es eine Art asketische Übung. Damit maßt du dir an, dass du irgendetwas tun kannst, was du eigentlich nur von Amitabha Buddha bekommen kannst. Das solltest du lieber sein lassen. Iss am besten ganz normal.“
Ich war damals geschockt. Das zeigt, dass es ganz unterschiedliche Ausformungen gibt und dass man Buddhismus immer im kulturellen Kontext sehen muss. Da kommen wir wieder zurück zu dem Punkt, dass es den Buddhismus an sich nicht gibt. Ich sehe in der Vielfalt nichts Schlechtes. Buddhismus war immer fließend und offen.
Generell sehe ich heute ein breites Spektrum zwischen einem engagierten Buddhismus auf der einen Seite und einem eher kontemplativen Buddhismus.
Richtig. Es gibt zum Beispiel die Tzu-Chi-Bewegung aus Taiwan. Wenn man den Leuten begegnet, spürt man eigentlich nichts Religiöses. Das sind reine Pragmatiker, die ihren Dienst an der Welt leisten wollen. Immer wenn irgendwo eine Katastrophe eintritt, sind sie zur Stelle und helfen.
Auf der anderen Seite haben wir vielleicht tibetische Mönche, die zehn Jahre in einer Höhle sitzen und meditieren. Ich glaube nicht, dass man sagen kann, das eine ist richtig, das andere ist falsch. Für den einen mag das eine passen, für einen anderen das andere. Das ist doch, glaube ich, die Stärke des Buddhismus, dass man so unterschiedliche Register ziehen kann.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 123: „Buddha heute"
Ich möchte noch ein anderes Thema anschneiden: Buddhismus und Pazifismus. Ich nehme den frühen Buddhismus als pazifistisch wahr. Später, im Mahayana, ändert sich das Verhältnis zur Gewalt. Wenn man mit einer einzelnen Gewalttat größeres Leid verhindern kann, zum Beispiel einem Tyrannenmord, ist Gewalt legitim. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Das ist gar nicht so abwegig, denke ich. Wenn wir den Bodhisattva-Gedanken ernst nehmen – ein Bodhisattva setzt sich zum Wohle aller lebenden Wesen ein –, tötet er vielleicht auch eine Person, die kurz davor steht, zu morden, um genau diesen Täter vor den karmischen Folgen zu beschützen. Er nimmt als spirituell weit fortgeschrittenes Wesen die karmischen Folgen so einer Tat auf sich selbst. Das ist die logische Konsequenz der buddhistischen Ethik. Man opfert sich für andere.
Diese Handlungsoption ist in der buddhistischen Lehre aber gewiss nur weit fortgeschrittenen Bodhisattvas vorbehalten. Sie ist nicht dafür gedacht gewesen, dass normale Menschen sie auf der Straße anwenden.
Sind aus buddhistischer Sicht die Aktionen der Klimaaktivisten legitime Gewalt? Unter den Klimaaktivisten gibt es auch Buddhisten. Wir hatten über die XR-Buddhist in der Ursache\Wirkung No. 122 berichtet.
Schwierige Zeiten benötigen vielleicht andere Maßnahmen als normale Zeiten. Ich kann die Aktivisten gut verstehen. Es sind meines Wissens bei den Aktionen keine Menschen zu Schaden gekommen. Gab es nicht lediglich Sachbeschädigungen?
Ja, von Gewalt gegen Menschen distanzieren sie sich.
Dann sehe ich da kein Problem. Wenn die Proteste aus einer buddhistischen Gesinnung heraus erfolgen, dann ist es ja eine Art Praxis. Thich Nhat Hanh hat sich damals auch meditierend im Krieg in Vietnam zwischen die Fronten gesetzt. Das ist vielleicht nicht vergleichbar. Aber ich finde es richtig, dass Buddhisten aktiv werden und Verantwortung für die Welt übernehmen, deren Teil wir alle sind. Wenn diese buddhistischen Aktivisten sagen, „Wir wollen nicht einfach nur aus dem Samsara raus, wir setzen uns für das Hier und Jetzt ein“, dann zeigt es ja wieder, wie wandelbar Buddhismus ist.
Vielen Dank für das interessante Gespräch.
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