Wer die Freude des Gebens beherrscht und sich in der Kunst vom Loslassen übt, wird frei – jeden Tag auf Neue
Es gibt Zeiten im Leben, in denen alles wie am Schnürchen läuft. Die Kontoeingänge sind höher als die Abbuchungen. Die Sonne verschwindet nur hinter den Wolken, wenn wir schlafen. Völlig Unbekannte behandeln uns wie die liebsten Familienmitglieder. Die besten Gelegenheiten fallen uns in den Schoß – wir müssen sie einfach nur ergreifen. Wer wünscht sich das nicht? Solche gesegneten Lebensphasen werden uns geschenkt, sie lassen sich nicht einfordern. Wir können uns nur dafür öffnen und den Boden bereiten, durch alltägliches Üben von Großzügigkeit und Loslassen.
Die Kunst des Loslassens und die Großzügigkeit spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg zur inneren Befreiung. Großzügigkeit, in Pali dana, zeigt sich durch Mitgefühl und in der Bereitschaft, zu dienen, zu verzeihen und dem anderen entgegenzukommen, wenn es um Meinungen und Ansichten, um vermeintliches Recht und Unrecht geht. Immer wieder wird durch die Freude des Gebens die Verbindung zum Besten in uns und anderen hergestellt. Im Geben fühlen wir uns stark. Wir entspannen uns und können das Loslassen dadurch auch körperlich erfahren. Großzügigkeit und Loslassen sind siamesische Zwillinge, die nicht voneinander getrennt werden können. Ihren höchsten Ausdruck findet Großzügigkeit darin, dass zwischen Geber und Empfänger kein Unterschied mehr gesehen wird.
Die Kraft des Gebens hat etwas Magisches und Geheimnisvolles. Manche Menschen versuchen ein Leben lang, dieses Geheimnis zu ergründen. Und je näher sie dem kommen, umso herausragender wird ihre Großzügigkeit.
Als junge Meditationslehrerin habe ich im Spirit Rock Meditation Center in Kalifornien erlebt, wie eine Teilnehmerin eines langen Schweigekurses die Kunst des Loslassens übte. Am Anfang des Kurses kam sie auf mich zu, sie hatte schon seit Jahrzehnten Meditationserfahrung. „Wenn du magst, kannst du in den kommenden Wochen mit meinem Auto fahren. Es steht sonst ja nur auf dem Parkplatz herum.“ Erfreut nahm ich den Autoschlüssel. Sie fügte zum Glück aber noch hinzu, dass der Wagen erst eine Woche alt ist, aber gut versichert. Sie war Rechtsanwältin. „Du musst dir keine Sorgen machen und kannst dich einfach daran erfreuen“, sagte sie.
Buddha lehrte das Loslassen
Ich bin gleich zum Parkplatz gegangen und habe nicht schlecht gestaunt. Das neue Auto entpuppte sich als ein goldener Lexus mit weißen Ledersitzen. Die Anwältin hatte sich einen Traum erfüllt und war bereit, ihn mit mir zu teilen. Diese Form von Großzügigkeit war für mich kaum fassbar. Bis ich die Luxuskarosse entspannt über die sechsspurige kalifornische Autobahn steuern konnte, dauerte es eine Weile.
Buddha ging von der Vollkommenheit jedes Menschen aus. Er war überzeugt, dass wir alle ursprüngliches Gutsein in uns tragen. Im Kern unseres Wesens sind wir erleuchtete Essenz, reines Licht, absoluter Frieden. Er verglich den menschlichen Wesenskern mit einem Goldklumpen, der seit unzähligen Daseinszyklen bis zur Unkenntlichkeit verkrustet und verborgen in uns schlummert, und der freigelegt und poliert werden möchte. Buddhas Lehre gibt uns Werkzeuge in die Hand, diesen Goldschatz in uns und anderen zu erkennen und zum Funkeln zu bringen. Nach Jahrzehnten des Übens können wir eines Tages feststellen, dass sich fast nebenher Geisteshaltungen entwickelt haben, die im Buddhismus als die zehn Vollkommenheiten bezeichnet werden. Sie heißen: Großzügigkeit, Energie, Entschiedenheit, Wohlwollen, nicht verletzendes Handeln, Wahrhaftigkeit, Geduld, Weisheit, Gelassenheit, Loslassen. Die zehn Vollkommenheiten sind kreisförmig angeordnet. Sie beginnen mit Großzügigkeit und gipfeln im Loslassen.
Großzügigkeit zeigt sich in unendlich vielen Variationen. Jemand hält einem die Tür auf, gibt Vortritt. Ich bedanke mich mit einem Lächeln. Für den Bruchteil einer Sekunde ist in unseren Herzen ein Licht aufgegangen. Auch beim Autofahren gibt es viele Gelegenheiten, sein Repertoire zu erweitern. Großzügig warten, auch wenn man selbst die Vorfahrt hat, oder jemandem einen Parkplatz freiwillig überlassen: Man fühlt sich selbst als Heldin des Tages. Man kann auch freigiebig mit Lob und Anerkennung sein, mit Zeit und Aufmerksamkeit, mit Freude am Schenken und der Bereitschaft, zu verzeihen. Man kann einem Unbekannten im Konzert ein Hustenbonbon schenken, den Briefkasten für die verreisten Freunde leeren und ihre Katze füttern oder einfach mit offenem Herzen zuhören und antworten.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 110: „Familienbande"
Manche wägen ab: Soll ich das geben, was jemand anderes sich von Herzen wünscht? Oder ist es wichtiger, zu beachten, was angemessen und hilfreich ist? Geben wir aus einem Impuls der Pflicht und Notwendigkeit? Oder kann unser Geben Ausdruck innerer Freiheit sein und zeigen, dass wir bereit sind, loszulassen? Buddha hat der anonymen Großzügigkeit besonderen Wert beigemessen, weil sich darin zeigt, dass keine strategischen Überlegungen im Vordergrund stehen, keine Berechnungen über den Dank, der uns zustünde, keine Genugtuung, wenn der Beschenkte staunt. Es geht einfach nur um das Loslassen als Gegensatz zum Festhalten und Klammern.
Großzügigkeit ist stets eine Herausforderung! Wie oft ringen Eltern mit der Entscheidung, ob sie ihren Kindern, die gerade den Führerschein gemacht haben, ihr Auto überlassen können. Oder sie fragen sich, ob sie eine Party erlauben, während sie selbst im Urlaub sind. Das Abwägen zwischen Verantwortung und Großzügigkeit ist eine schwierige Aufgabe, für die es keine allgemeingültigen Regeln gibt. Die Grenzen sind von Person zu Person ganz unterschiedlich. Was für den einen kinderleicht erscheint, stellt für die andere schon eine besondere Herausforderung dar. Großzügigkeit ist immer ein Dialog mit den persönlichen Grenzen. Mal öffnen sie sich spielend leicht, mal sind sie fest verschlossen, und wir führen lange, verbissene Selbstgespräche, bis wir es schaffen, loszulassen. „Ich gebe niemandem etwas, ich tue alles für mich selbst“, soll Gandhi gesagt haben. Dabei war ihm sicher bewusst, dass jeder Akt des Gebens, sei er auch noch so klein, um ein Vielfaches auf den Gebenden zurückwirkt.
Doch es braucht auch die Bereitschaft, diese Rückwirkung zu empfangen. Wahrhaftige Offenheit zielt nicht nur in eine Richtung. „Wer großzügig im Geben und engherzig im Nehmen ist, verliert bald sein seelisches Gleichgewicht,“ schreibt John O'Donohue in „Anam Cara“. „Solange wir uns selbst gegenüber nicht großzügig sind, können wir auch die Liebe nicht empfangen, die uns allezeit umgibt. Wir hungern verzweifelt nach ihr. Wir suchen jahrelang außerhalb unseres Selbst, an den entlegensten Orten. Und die ganze Zeit ist die Liebe nur ein paar Zentimeter entfernt.“
Großzügigkeit hat eine zutiefst entspannende Wirkung. So wie die Sonnenwärme Eis zum Schmelzen bringt, so löst der Impuls zum Geben unser inneres Anhaften, und unsere besten Eigenschaften kommen hervor: die zehn Vollkommenheiten. Wenn wir sie auf unserem Weg bewusst erkennen und benennen, werden sie in ihrer Ausprägung und Wirkung vertieft. Wir können den Goldklumpen in uns selbst und anderen erahnen und ihn dadurch immer mehr zum Glänzen bringen.
Marie Mannschatz: „Vollkommen unvollkommen“, O. W. Barth Verlag 2019