Wir ärgern uns und sind unzufrieden, obwohl wir das nicht wollen. Das ist Unfreiheit. Wie man unangenehme und unheilsame Zustände überwindet, hat Buddha gelehrt und uns damit einen Weg in die Freiheit gezeigt.
Vorabdruck des fünften Bands „Das Geheimnis der Achtsamkeit“ aus der Serie „Möge die Übung gelingen“ von Peter Riedl
Sprechen wir von Freiheit, denken wir fast immer nur an die materielle. Um sie bemühen wir uns, für sie kämpfen wir. Ein Land, das nicht besetzt ist, ein Mensch, der nicht eingesperrt ist, der ins Ausland reisen kann, werden als frei bezeichnet. Doch dauerhafte materielle Freiheit ist nicht möglich. Weil wir einen Körper haben, sind wir von dessen Funktionen, von Nahrung und vielen anderen materiellen Dingen abhängig. Geistige Freiheit hingegen, die einzig wahre und mögliche, erscheint in dieser Gesellschaft weniger erstrebenswert. Sie bedeutet, in jedem Augenblick des Lebens, bei allem, was man tut, die Wahl zu haben, ob man daran leidet oder nicht, und für sich selbst und andere das Heilsame zu tun und das Unheilsame zu unterlassen. Wir suchen diese Form der Freiheit nicht, da sie unrealistisch scheint. Das Leben ist eine ständige Abfolge schöner, ruhiger, aber auch stressiger Phasen. Stress und Schwierigkeiten scheinen unausweichlich zu sein. Wenn wir krank sind, in Konflikte verstrickt, andere nicht das tun, was wir wollen, entsteht Leiden, scheinbar ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können. Der Legende nach hat auch Buddha das so festgestellt und einen Ausweg daraus gesucht.
Die meisten wissen weder, was geistige Freiheit bedeutet, noch wie man sie erlangt. Die Ursache des Leidens liegt in der Unwissenheit darüber, wie es entsteht und überwunden werden kann.
Suchen wir den Weg in die Freiheit, müssen wir am Bewusstsein ansetzen. Es ist wie eine Revolution im Geist, ein Eintauchen in eine neue Welt.
Was bedeutet der Begriff „Leiden“? In alten buddhistischen Texten heißt es: Geburt, Alter, Krankheit und Tod, mit Unliebem vereint und von Lieben getrennt sein, das seien Leiden. Doch diese apodiktische Ausdrucksweise ist nicht ganz richtig, denn es wird auch gelehrt, man könne Leiden überwinden. Das bedeutet, dass diese Leiden nicht zwangsläufig auftreten. Schaut man genau hin, wird man erkennen, dass es nicht die Vorfälle selbst sind, unter denen Menschen leiden, sondern vor allem die Gedanken und Gefühle, die sie begleiten. Wir leiden nicht, wenn wir uns angenehm oder neutral fühlen und positive Gedanken haben. Wir leiden, wenn die Gefühle und Gedanken unangenehm sind. Die Gedanken haben wir nur teilweise, die Gefühle gar nicht unter Kontrolle. Sie sind von der Wahrnehmung äußerer Ereignisse abhängig. Diese äußeren Umstände können wir nicht oder nur eingeschränkt ändern. Trotzdem suchen wir dort die Lösung, anstatt an uns selbst zu arbeiten.
Es ist zwar möglich und auch sinnvoll, äußere Störfaktoren zu beseitigen; das eigentliche Problem liegt allerdings woanders, nämlich in uns selbst. Es gibt keine äußeren oder inneren Ereignisse, die per se leidhaft oder stressig sind, nicht einmal Alter, Krankheit und Tod. Jegliches Leid wird ausschließlich selbst kreiert. Herauszufinden, wie und warum das so ist, führt in wahre Freiheit. In Unwissenheit und Unbewusstheit liegen die Probleme. Um weiser und bewusster zu werden, wurden vier Methoden gelehrt: erstens die Meditation, insbesondere Ruhe und Einsicht. Diese Konzentrationsübungen führen tief in das eigene Innere. Aber erst mit einer längeren Praxis kann man ihr gesamtes Potenzial entfalten.
Zweitens die Achtsamkeit auf den Körper, die Gefühle und die Gedanken. Wenn man diese übt, entsteht Erkenntnis über das Selbst, die Zusammenhänge in der Welt, und man erlangt einen höheren Bewusstheitsgrad. Moderne Achtsamkeitsmethoden schöpfen selten das Potenzial dieser Praxis gänzlich aus; häufig werden nur Verhaltensänderungen oder andere Teilaspekte der Methode geübt. Drittens die Untersuchung, sie gehört eigentlich zur Achtsamkeit und ist das wertfreie Beobachten und Feststellen aller inneren und äußeren Vorgänge. Anstrengung ist die vierte Methode.
Sie hat zwei Formen. Bei der ersten bemüht man sich stetig, unheilsame Zustände – Ärger, Hass, Eifersucht, Begehren –, die bereits entstanden sind, wieder zu beenden, und wenn sie noch nicht entstanden sind, gar nicht entstehen zu lassen. Heilsame Zustände wie Liebe, Geduld, Großzügigkeit versucht man zu entwickeln und, wenn das gelungen ist, zu bewahren. Die zweite Form gelingt anstrengungslos. Man hat sich in der Vergangenheit so sehr gewandelt, dass unheilsame Reaktionen gar nicht mehr auftreten.
Für alle vier Methoden braucht man zusätzliches Wissen über die Zusammenhänge des Lebens und, fast noch wichtiger, ein ständiges Bemühen, ethisch zu leben. Modern ausgedrückt handelt es sich um eine Arbeit am Ich. Auch hier gibt es im Wesentlichen unterschiedliche Herangehensweisen. Bei der ersten versucht man, das Ich zu verbessern und zu optimieren. Bei der zweiten geht es darum, das Ich zu verändern.
Bei der dritten übt man, das Ich zu transformieren und aufzugeben. Zur zweiten Methode zählen Lebenserfahrung, Psychotherapie, Verhaltensänderungen. Alle Achtsamkeitsmethoden, in denen man sich liebevoll verhält, gehören dazu. Sie alle sind wertvoll, führen aber wie Methode eins zu keiner grundlegenden Änderung.
Diese geschieht erst durch Methode drei, der buddhistischen. Sie ist, wenn man ihr volles Potenzial ausschöpfen möchte, aus einem Grund schwer zu finden: Wir müssten, um in den unbewusst ablaufenden Prozess der bedingten Entstehung leidvoller Handlungen weise eingreifen zu können, bewusster sein, als wir es sind. Von dem, was wir den ganzen Tag denken, fühlen und handeln, sind uns nur zwei bis zehn Prozent bewusst. Leiden, das man mit einer modernen Bezeichnung auch als Stress bezeichnen kann, hat seinen Ursprung in mangelnder Bewusstheit. Das ist auch der Grund, warum es so schwer ist, die Ursachen zu überwinden und Befreiung zu finden. Es ist nicht einfach, den Bewusstheitsgrad zu erweitern. Und etwas zu wissen, bedeutet noch nicht, dass es mir immer bewusst ist.
Die Ursache des Leidens liegt in der Unwissenheit darüber, wie wir das Leiden überwinden können.
Wir wissen, dass wir sterben, dass irgendwo ein Krieg tobt, aber das volle Bewusstsein darüber fehlt. Das stellt sich erst ein, wenn ein Familienmitglied stirbt oder der Krieg vor unserer Tür steht. Dann erst wissen wir wirklich, was Tod und Krieg bedeuten, nicht nur rational, sondern auch emotional. Man nennt das Einsichtsmomente. In der Meditation kann man sie erleben, manchmal, selten auch spontan ohne Anlass. Solche Momente können alles verändern. Im normalen Alltag jedoch sieht es anders aus: Wir sehen oder hören etwas, das uns nicht gefällt, und wie auf Knopfdruck springen unangenehme Gedanken und Gefühle an. Wir können diese Impulse ohne entsprechende Praxis nicht beeinflussen, merken sie nicht im Entstehen, sondern erst, wenn sie da sind, oft nach Stunden, manchmal nicht einmal dann, weil sie uns nicht bewusst sind. Das wird in der Lehre des bedingten Entstehens beschrieben. Sie ist ein zentrales Element im Buddhismus. Man kann sie auch ohne religiöse Elemente verstehen und als hilfreich ansehen. So verhilft sie zu der Erkenntnis, wie unheilsame Gedanken, Gefühle und Handlungen in der Vergangenheit entstanden sind, sich heute wiederholen und in der Zukunft fortsetzen, wenn dieser Prozess nicht gezielt unterbrochen wird. Durch Unwissenheit und mangelnde Bewusstheit wiederholen wir jeden Tag aufs Neue leidbringende Handlungen. Das wird als Daseinskreislauf oder Samsara bezeichnet. Es ist die unbewusste Impulshaftigkeit, die diesen Prozess in Gang hält. Mit Trieben sind hier nicht nur jene gemeint, die Freud gelehrt hat, also Sexual- oder Nahrungstrieb, sondern vor allem alle Impulse oder Antriebe, die ständig entstehen und sich als Ärger, Unsicherheit, Verzweiflung, also in einer ganzen Palette psychologischer, aber auch körperlicher Reaktionen manifestieren, wie Kopfschmerzen, Verspannungen, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen.
Sobald diese Reaktionen auftreten, ist es zu spät, ruhig und entspannt zu bleiben. Der Impuls für die Reaktionen wurde bereits kurz vor ihrem Auftreten ganz automatisch durch das durch die Sinneswahrnehmungen entstandene Gefühl ausgelöst. Was bedeutet das im Klartext der täglichen Erfahrungen? Jemand sagt: „Du bist ganz schön dumm!“ Das höre ich – das ist die Sinneswahrnehmung. Sie löst ein, in diesem Fall unangenehmes, Gefühl aus, auf das ich mit Ärger reagiere. Ich reagiere also nicht auf den anderen, sondern auf mein Gefühl.
Nicht der andere ist die Ursache meines Ärgers, sondern ich bin die Ursache. Dort muss ich meinen Ärger lösen, nicht versuchen oder hoffen, dass der andere anders mit mir spricht. Das wollen wir immer, aber es ergibt keinen Sinn, denn erstens funktioniert das nur selten, und zweitens – und viel wichtiger – macht es mich unfrei. Nicht ich kreiere dann meine Emotionen, sondern diese sind durch andere bedingt. Ich bin jeden Tag aufs Neue das Opfer und nicht der Akteur meines Lebens. Wir erkennen den Stress, oft auch seine Ursache, und können doch nicht verhindern, dass er entsteht. Wir wollen ihn nicht haben und erleben ihn trotzdem. Den meisten Menschen ist es nicht möglich, in einer Situation, die Ärger hervorrufen kann, geduldig zu bleiben. Wir sind gefangen in unseren Reaktionen. Die Ursachen scheinen immer außen zu liegen.
Diesem Dasein stellt Buddha ein Leben in Nirvana gegenüber, in dem man die eigenen Reaktionen auf äußere Ereignisse bewusst steuern kann. Man ärgert sich nie wieder, ist nie wieder verzagt, ängstlich, deprimiert. So unverzagt, mutig und fröhlich zu sein, wäre erstrebenswert.
Samsara beginnt vor der Reaktion – und zwar im Gefühl. Wir hören etwas, was uns nicht gefällt, und sofort ärgern wir uns. Wir sehen etwas, wovor wir uns fürchten, und reagieren mit Angst. Wovon ist es abhängig, dass etwas, das wir sehen, hören oder fühlen, in uns ein unangenehmes, angenehmes oder neutrales Gefühl verursacht?
Das hängt von den Konditionierungen, Glaubenssätzen, Wert- und Vorurteilen, der Erziehung und Veranlagung ab. Diese haben wir durch Unwissenheit kreiert; wir wissen nicht, welche Werturteile und Vorstellungen wir hätten entwickeln sollen, um nicht zu leiden. Natürlich ärgere ich mich, wenn ich sehe, dass meine Kinder nicht lernen. Es ist unschwer zu erkennen, dass Ärger in diesem Fall nichts bringt.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Andere Handlungsweisen – geduldige, liebevolle und fürsorgliche – wären viel sinnvoller. Zu der Unkenntnis, wie ein weises Verhalten zu erreichen wäre, kommt dazu, dass einem nicht bewusst ist, wenn Gefühle entstehen. Und das Gefühl bedingt die Reaktion. Alles, was einen Menschen ausmacht, bezeichnet Buddha als sein Karma. Diesen Ausdruck gibt es in der deutschen Sprache nicht. Er umfasst die Persönlichkeit, Veranlagung, Erziehung, Glaubenssätze, den Charakter sowie alle Handlungen und deren Ergebnisse. Laut Nyanatiloka, einem deutschen buddhistischen Mönch, der im 20. Jahrhundert in Sri Lanka gelebt hat, ist damit jedoch nicht das Schicksal eines Menschen oder eines ganzen Volkes gemeint, wie es im Westen manchmal angenommen wird. Karma ist keine im Außen wirkende Kraft, die selbst etwas bewirkt. Ein sogenanntes schlechtes Karma eines Menschen umfasst seine Konditionierungen, Glaubenssätze, Handlungen, durch die nicht nur er selbst, sondern auch andere leiden. Die Ursache dafür liegt in der eigenen Unwissenheit. Wer den Weg in die Freiheit sucht, muss am Bewusstsein ansetzen und in einer völlig neuen Art und Weise mit den eigenen Gedanken und Gefühlen umgehen. Es ist wie eine Revolution im Geist, ein Eintauchen in eine neue Welt. Der Weg zu einem gelingenden Leben beginnt mit dem buddhistischen Geistestraining, dem Erlangen von Wissen und dem Bemühen, ethisch zu leben.
Möge die Übung gelingen.
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