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Diskurs

Die Bodhisattva-Vorstellungen in den verschiedenen buddhistischen Schulen sind breit gefächert. Dieser Beitrag zeigt, dass Ideal und Realität des Bodhisattva oft weit voneinander entfernt sind.

Was bedeutet eigentlich Bodhisattva-Handeln heute? Reichen mitfühlende Meditationsübungen dafür aus oder ist nicht eher aktives soziales und ökologisches Engagement gefragt? Ist beispielsweise die Klima-Aktivistin Greta Thunberg eine echte Bodhisattva unserer Tage? Eine in der Ausgabe 1/2020 der in Hamburg erscheinenden „Buddhistischen Monatsblätter“ von Manfred Folkers verfasste veröffentlichte „Hommage an die Bodhisattva Greta“ hatte seinerzeit in der Folgeausgabe eine heftige Leserreaktion provoziert. Ein Bernd A. Weil äußerte sein „Entsetzen“ über eine solche Einschätzung, sprach von „Unfug“ und „Provokation“, unterstellte dem Autor des Textes „Verblendung“ und verlangte zudem vom Herausgeber der Zeitschrift „Korrektur oder Gegendarstellung“. Folkers Beitrag erschien auch in der „Buddhismus aktuell“, dem Organ des deutschen Verbandsbuddhismus, wo er ähnliche Reaktionen hervorrief, bis hin zu Abokündigungen.

Warum bloß diese heftigen Reflexe auf das ganz persönliche Bekenntnis eines Autors, dass für ihn eine bestimmte Person des öffentlichen Lebens den Status eines Bodhisattvas genießt? Offensichtlich werden hier innerste und heiligste Glaubensüberzeugungen erschüttert.

Bodhisattvas gibt es nicht nur im Mahayana-Buddhismus
Eines der viel erzählten Narrative des späten Buddhismus lautet etwa so: Im frühen Buddhismus, oft noch abschätzig zum „Kleinen Fahrzeug“ degradiert, dominiere die Heilsfigur des Arhat, dessen Bemühen allein auf seine eigene Erlösung konzentriert sei. Dagegen habe das Mahayana den Bodhisattva hervorgebraucht: ein Heiliger oder eine Heilige, die zwar qualifiziert seien, in das Nirvana einzutreten, diesen Eintritt aber verschöben, um weiter zum Wohle aller unerlösten Wesen wirken zu können. Den Heilsegoisten der frühen Schulen stünden also die selbstlosen Verwirklicher des „Großen Fahrzeugs“ gegenüber. Es ist eine oft kolportierte Geschichte, aber es ist ein Mythos, der den historischen Tatsachen in keiner Weise entspricht. Auch im frühen Buddhismus gilt der Weg des Bodhisattva als der höchste Heilspfad, dessen Ursprung zudem vorbuddhistisch ist und im indischen Karma-Yoga der Bhagavad-Gita gründet. Die Idee eines Handelns ohne jedwedes Verlangen nach der Frucht des Wirkens war einer der alten indischen Pfade zur großen Befreiung, genannt „moksha“. Es ist also noch nicht einmal ein buddhistisches Alleinstellungsmerkmal.

Im Dienste anderer: die Genese des Bodhisattva-Ideals
Allerdings erfährt dieses Ideal bereits im frühen Buddhismus eine spezifische Ausschärfung. Mit dem Mahapadana-Sutta nimmt es eine sehr konkrete Gestalt an. Zentral ist dort der Vorsatz, anderen zu dienen und diese Entschlossenheit mit einem Gelöbnis zu bekräftigen. Der Bodhisattva schwört, zum Wohle aller Wesen das Ziel der Buddhaschaft zu erreichen und diesen Weg mit aller Entschlossenheit zu gehen. Es heißt, bereits in einem seiner Vorleben habe Sakyamuni gegenüber einem anderen lebenden Buddha jener Zeitepoche das Bodhisattva-Gelöbnis abgelegt. Das Ghatikara-Sutta erzählt die unspektakuläre Geschichte eines Töpfers, der seinen zögernden Freund, einen jungen Brahmanen, davon überzeugen möchte, mit ihm den vorzeitlichen Buddha Kasyapa zu besuchen, um von ihm die Erleuchtung zu erlangen. Doch der junge Brahmane greift diesen Vorschlag nicht auf. Die Botschaft dieser Episode ist folgende: Der junge Brahmane soll Gautama in einer seiner früheren Existenzen gewesen sein. Warum ging er nicht mit? Er gibt eine Interpretation, die besagt, er habe zu ebendiesem Zeitpunkt entschieden, zwar das Ziel der Buddhaschaft zu erstreben, zunächst jedoch den Wesen zu dienen. Diese Aufgabe habe daher Vorrang gehabt.

Der Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus
Obwohl das Bodhisattva-Ideal nicht dem Mahayana entstammt, hat es hier eine neue Form religiöser Praxis begründet, wobei angestrebte und tatsächlich eingetretene Wirkungen auseinandergehen. Der Bodhisattva ist nun nicht allein das persönliche Lebensideal, sondern der Bodhisattva wird zur anbetungswürdigen Heilsgestalt, die dem Gläubigen in widrigen Lebenssituationen Hilfe und Bestand zukommen lässt. Auch gibt es erstmals weibliche Bodhisattvas. Bald zeigt sich als Folge die Tendenz, den Bodhisattva weniger zum Ziel des eigenen Strebens zu machen, als ihn in anderen manifestiert zu sehen und zu verehren. So befriedigt der Bodhisattva die volksreligiösen Bedürfnissen nach verehrungswürdigen Wesen, welche zugleich eine große persönliche Nähe ausstrahlen. Aus konkreten Menschen werden mythologische Figuren. So ist der tausendarmige in­dische Ava­lokiteshara in Tibet der männliche Chenrezig und mutiert  dann in China zur weiblichen Bodhi­sat­tva Guanyin. Manjushri, der Bodhisattva der Weisheit, muss auch ganz praktische Aufgaben erfüllen. In China ist er der Schutzpatron der Prüflinge. Zu den mythologischen Figuren kamen im Lauf der Zeit historische Personen, darunter Kaiser und siegreiche Generäle, die auf diese Weise und oft auf eigene Initiative, ein über ihren Tod bleibendes Image erhielten. Insbesondere in vietnamesischen Tempeln sieht man überall Skulpturen solcher „Herrschafts-Bodhisattvas“. Neben der Instrumentalisierung des Bodhisattva-Titels durch die Machthaber gab es im Lauf der Geschichte auch immer wieder Rebellenbewegungen, bei denen sich die Anführer einer religiösen Legitimation ihrer Widerstandshandlungen bedienten und sich dabei zu Inkarnationen Maitreyas erklärten oder von ihren Anhängern dazu erklären ließen. Wu Zetian, die einzige Kaiserin des imperialen China, die von 690 bis 705 herrschte, beauftragte nach ihrer Thronbesteigung die Mönche und Nonnen des Landes, überall in den Tempeln aus dem Großen-Wolken-Sutra zu rezitieren, in dem – nach ihrer Deutung – die Wiederkehr Maitreyas als weibliche Herrscherin prophezeit wird.

Beitrag

Die Pervertierung des Bodhisattva-Ideals – wenn Motive mehr zählen als Taten
In einigen Richtungen des Mahayana kommt es zugleich zu einer Pervertierung des Bodhisattva-Ideals. Bereits Asanga, ein Vertreter der Yogacara-Schule aus dem 4. Jahrhundert, erklärt im Bodhisattva-bhumi-sastra, dass ein Bodhisattva töten darf und sogar töten muss, wenn ein Mensch im Begriff sei, ein fühlendes Wesen zu verletzen. Solche Tötungshandlung sei ein mitleidiger Akt eines Bodhisattva und schaffe kein schlechtes Karma. Als die Gewalt legitimierende Begründung wird vor allem auf die Leerheit „shunyata“ Bezug genommen: Niemand sterbe letztlich wirklich, da die sinnlich wahrnehmbare Welt nur eine Fiktion sei. Da der Fokus nun auf der Motivation des Handelns liegt, wird das vermeintlich untadelige Motiv höher bewertet als die faktische Gewalttat. Tatsächlich zeigten sich fatale Konsequenzen in der Geschichte des chinesischen, japanischen und tibetischen Buddhismus. Chinesische Shaolin-Mönche kämpften gegen häretische Truppen mit brutaler Gewalt, wehrten sich auf ebensolche Weise gegen unliebsame Regierungsentscheidungen und erstritten bewaffnet sogar Grundbesitz und Ländereien für den Orden. Auch in Tibet gab es blutige Kämpfe zwischen der Gelugpa- und der Kargyü-Schule. Und die Missionierung der Mongolen durch die Tibeter war alles andere als gewaltfrei. In Japan unterhielten viele Klöster schlagkräftige Mönchstruppen, die den lokalen Herrschern in bedingungsloser Loyalität ergeben waren. Damit etablierte sich so etwas wie das Ideal eines „Kampf-Bodhisattvas“, eines „Erleuchteten“, der im Dienste höherer Ziele Handlungen vollzieht, die zwar dem buddhistischen Gebot des Nichttötens widersprechen, aber mit einer Relativierung moralischer Werte gerechtfertigt werden. Das Konzept des „Motivations-Bodhisattvas“ verdrängte somit den „Handlungs-Bodhisattva“, für den die Taten das Entscheidende sind. Mit dieser Geisteshaltung rechtfertigen tibetische Buddhisten heute den US-amerikanischen „War on Terror“, so etwa der bekannte Lama Zopa, der geistige Leiter der erst kürzlich wegen vertuschter Sexskandale in die öffentliche Wahrnehmung getretenen FPMT (Foundation for the Preservation of the Mahayana Tradition). Zopa schlug dem amerikanischen Präsidenten nach dem 11. September 2001 einen „Krieg besonderer Art“ vor:

„Eine (…) Lösung wäre ein Krieg ohne Hass, etwas das als grausam erscheint, sich aber tatsächlich als positiv erweist. (...). Wenn (…)  ein böses Individuum sich selbst und im großen Maßstab anderen und der Welt schadet, dann sind im Mahayana-Buddhismus große Heilige, genannt Bodhisattvas, durch ihr unerschöpfliches Mitgefühl qualifiziert, diesem Wesen das Leben zu nehmen (...) Sie tun dies, um diesem Wesen zu helfen, indem sie es davon abhalten, sich weiterhin in unheilsame Taten zu verstricken und ebenso für den Frieden und das Glück anderer.“ (Quelle: Ausgabe März/April/Mai 2002 von Mandala – Buddhism in our Time, S. 36)

Sollen folglich Bodhisattvas die Killerdrohnen steuern und die Zielbahnen der Raketen berechnen? Müssen die gemeinen Soldaten erst durch Würdenträger des tibetischen Buddhismus für ihre Aufgabe spirituell qualifiziert werden und ein buddhistisches Motivationstraining durchlaufen, bevor sie ins Feld rücken? Auch bleibt die Frage offen, wer denn dann für die unvermeidlichen „Kollateralschäden“ solcher Aktionen und den Tod und die Leiden Unschuldiger und Unbeteiligter verantwortlich ist.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 119: „Zukunft gestalten"'

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Ist Greta nun eine Bodhisattva?
Wir sehen also: Das Ideal des Bodhisattva hat eine lange literarische Wirkungsgeschichte und manifestiert sich in widersprüchlichen Ausprägungen. Bodhisattvas sind Vorlebensbuddhas, Buddhas in „statu nascendi“, werdende Buddhas, wie Maitreya, rein mythologische Gestalten, aber auch konkrete Menschen, oft jedoch solche mit Macht- und Kriegerhintergrund und sehr fragwürdigem Vorbildcharakter. Personen der Zeitgeschichte mit Bodhisattva-Prädikaten zu bedenken, war in der Geschichte der buddhistischen Lehre stets üblich, wobei die Motive nicht immer ehrbare waren. Buhlereien um die Gunst des Herrschers waren da noch die harmlosesten. Es mag hilfreich sein, zwischen einem Bodhisattva im engeren und im weiteren Sinne zu unterscheiden. Ersterer wird jedoch von jeder buddhistischen Schule auf eigene und spezifische Weise definiert. Problematisch wird es immer dann, wenn jeder versucht, seine eigene Definition des Bodhisattva zur allgemeingültigen zu erklären. Als einen Bodhisattva im weiteren Sinne kann man dagegen ganz pragmatisch jeden Menschen betrachten, der nett und hilfsbereit ist und für das Wohl anderer und der Allgemeinheit große persönliche Opfer zu bringen bereit ist.

Greta Thunberg begann ihr beispielloses klimapolitisches Engagement 2018 als Schulstreikerin. Innerhalb kurzer Zeit ist es ihr gelungen, eine mächtige soziale und ökologische Bewegung zu entfachen. Weltweit wenden sich ihrem Beispiel folgend insbesondere junge Menschen den Problemen der Umwelt- und Naturzerstörung zu und entfalten einen Reigen vielfältiger Aktivitäten, worauf die herrschende Politik heute in vielfacher Weise zu reagieren gezwungen ist. Genährt durch eine Motivation des Mitgefühls mit der leidenden Natur zeigt sie bis heute große Hingabe und ein unerschütterliches Beharrungsvermögen – eine opferbereite Handlungs-Bodhisattva. Ich halte es für ziemlich kleinkariert, dieses Engagement als „permanente Verweigerung, aggressive Körpersprache und negative Haltungen“ zu denunzieren, wie der Verfasser des eingangs erwähnten Leserbriefs in den „Buddhistischen Monatsblättern“. Auch wer Greta Thunsbergs Kompromisslosigkeit kritisiert oder ihre Emotionalität für überzogen hält, sollte damit in einem Zug die Ernsthaftigkeit ihrer Sprache und die Bedingungslosigkeit ihres Einsatzes für eine wichtige und gerechte Sache infrage stellen. Mehr als die vielen Kaiser-, Kriegs- und Killer-Bodhisattvas der Vergangenheit ist die junge Schwedin dieses Prädikats wirklich würdig.

Hans-Günter Wagner ist ein traditionsübergreifender Buddhist. Er war fünfzehn Jahre in China beruflich tätig und studierte dort den chinesischen Buddhismus. Heute ist er Chinesisch-Lehrer und Übersetzer buddhistischer Prosa- und Lyrikwerke.

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Dr. Hans-Günter Wagner

Dr. Hans-Günter Wagner

Hans-Günter Wagner ist ein traditionsübergreifender Buddhist. Er war fünfzehn Jahre in China beruflich tätig und studierte dort den chinesischen Buddhismus. Heute ist er Chinesisch-Lehrer und Übersetzer buddhistischer Prosa- und Lyrikwerke.
Kommentare  
# Uwe Meisenbacher 2023-05-24 14:28
Ihr Artikel ist ein zutreffender Aufklärungsbeitrag. Danke dafür!
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