Dr. Ursula Baatz ist Religionswissenschaftlerin, Autorin und Journalistin. Sie studierte Philosophie, war gleichzeitig als katholische Religionslehrerin tätig und promovierte 1981 an der Universität Wien in Philosophie.
Ursula Baatz lehrte unter anderem zur Buddhismus-Rezeption. Sie ist Gründungspräsidentin und Mitherausgeberin des Magazins „Polylog – Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren“ sowie Gründungsmitglied der „Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie“. Ursula Baatz ist im Vorstand der Österreichischen MBSR/MBCT-Vereinigung, die sie mitbegründet hat, und unterrichtet MBSR, „Mindfulness-Based Stress Reduction“, MSC, „achtsames Selbstmitgefühl“, und IMP, „interpersonale Achtsamkeit“. Ihr neues Buch „Achtsamkeit: Der Boom – Hintergründe, Perspektiven, Praktiken“ ist Anlass für dieses Gespräch.
Hortz: Ich habe mich vor dem Gespräch selbstverständlich mit Ihrer Biografie vertraut gemacht. Bei Wikipedia las ich: „Ursula Baatz ist mit dem Zen verbunden.“
Baatz: „Mit dem Zen verbunden“ finde ich eine komische Formulierung. Ich praktiziere Zen. Das tue ich mittlerweile mehr als die Hälfte meines Lebens. Was relativ einfach ist, weil das Leben immer mehr wird.
Sie haben sich demnach vom römisch-katholischen Glauben verabschiedet?
Keineswegs. Ich bin nach wie vor Mitglied der katholischen Kirche. Ich bin etwas genervt über dieses derzeitige Bedürfnis, jemanden wie einen Schmetterling in einer Schmetterlingssammlung auf eine einzige Identität zu fixieren. Niemand hat nur eine Identität. Abgesehen davon, braucht man bei Religion – ganz egal bei welcher – historisch gar nicht so weit zurückzugehen, um darauf zu kommen, dass sie immer ein Patchwork-Projekt ist.
Ich habe bei einem bekannten Online-Buchhändler eine Recherche durchgeführt. Zum Stichwort „Achtsamkeit“ erhielt ich 40.000 Treffer. Darf ich etwas provokant fragen: Warum haben Sie ein weiteres Buch über Achtsamkeit geschrieben? Ist nicht schon alles gesagt?
Wahrscheinlich gibt es mehr als 40.000 Bücher über Achtsamkeit. Und noch mehr Kochbücher. Dennoch erscheinen immer wieder neue Kochbücher, aus denen man Neues lernen kann. Aber im Ernst: Mein Anliegen war, herauszufinden, warum Achtsamkeit so einen Boom erlebt. Warum Achtsamkeit und nicht irgendetwas anderes? Meine zweite Frage war, auch aufgrund meiner persönlichen Praxis, ob diese Achtsamkeit die gleiche Achtsamkeit ist, wie wir sie in den buddhistischen Traditionen finden: Was wird hier geübt, wer übt was und wie, aus welchem Interesse und woher kommt dieses Interesse?
Sie schreiben „Achtsamkeit ist nicht gleich Achtsamkeit und schon gar nicht mit Aufmerksamkeit zu verwechseln“.
Ursprünglich bezeichnete Achtsamkeit so etwas wie Höflichkeit; ob jemand achtsam ist im Umgang mit anderen Menschen, das heißt, beziehungsfähig. Jemand, der unachtsam war, war unhöflich. Das Wort war aber im 19. Jahrhundert nicht mehr in Gebrauch. Erst durch Karl Eugen Neumanns Übersetzung des Pali-Kanons erschien es wieder auf der Bildfläche. Er verwendete den Begriff „Achtsamkeit“ allgemein für buddhistische Meditationspraktiken. Seit Nyanatiloka, dem ersten deutschen buddhistischen Mönch und ebenfalls Übersetzer klassischer buddhistischer Texte, wird das Pali- und bzw. Sanskrit-Wort „sati“, das so viel wie Gewahrsein bedeutet, mit Achtsamkeit wiedergegeben. So richtig populär wurde Achtsamkeit danach durch Jon Kabat-Zinn und MBSR einerseits und anderseits durch das Interesse der Gehirnforschung sowie von Militär und Wirtschaft. Heute stolpert man überall über „Achtsamkeit“.
Ein Begriff wechselt den Kontext und ändert seine Bedeutung?
Ganz genau. Das hat zur Folge, dass manche Leute mit der Definition großzügig sind. Sie verwenden das Wort „Achtsamkeit“ so, wie sie es verstehen, vielleicht weil ihnen die Definition von Kabat-Zinn zu kompliziert ist. Das ist mir auch unter MBSR-Lehrer*innen begegnet, erstaunlicherweise. Das wirft dann die Frage auf, ob wir noch über dasselbe sprechen.
Und dann wird Achtsamkeit auch noch mit Aufmerksamkeit verwechselt.
Es gibt so etwas wie eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Wir werden unentwegt gezwungen, aufmerksam zu sein. Das hat seine Wurzeln in der Industrialisierung, im kapitalistischen Begehren, mehr zu produzieren. Dieses bedingt, dass immer mehr an Arbeitsleistung herausgepresst werden muss. Das geht aber nur dann, wenn die Menschen ihre Arbeit immer rascher und aufmerksamer verrichten. Unsere gesamte Gesellschaft ist auf Aufmerksamkeit gegründet. Die Kinder werden in der Schule darauf trainiert, aufmerksam zu sein. In unserer Freizeit richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Filme oder soziale Medien. Werbung und PR buhlen um unsere Aufmerksamkeit.
Und was genau ist aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen Achtsamkeit und Aufmerksamkeit?
Am besten kann man dies am Beispiel des Autofahrens deutlich machen. Dabei muss man aufmerksam sein, ansonsten gibt es ein Problem. Diese Aufmerksamkeit führt aber dazu, dass man irgendwann, wenn man aussteigt, zum Beispiel Kreuzschmerzen hat. Das liegt daran, dass man beim Autofahren einige Sinne überbeansprucht und anderes vernachlässigt. Man ist nicht nur Augen und Ohren, Lenkrad und Projektion nach außen, sondern ein ganzer empfindender Körper mit Emotionen und Gedanken. Achtsamkeit schließt all das ein. Eine Tätigkeit mit ganzer Aufmerksamkeit auszuführen, ist deshalb noch keine Achtsamkeit.
Was als Achtsamkeit begriffen wird, ist auch immer eine Frage des kulturellen Kontextes.
Völlig richtig. Was im frühen Buddhismus „sati“ war, unterscheidet sich vermutlich von dem, was heute im Buddhismus und vor allem in den Achtsamkeitspraktiken unter Achtsamkeit verstanden wird. Man kann ja auch nur retroperspektiv, anhand der vorhandenen Literatur erschließen, was unter „sati“ verstanden wurde. Tut man das, befindet man sich aber bereits in einem Interpretationszirkel. Das heißt, wir lesen die Texte als Personen des 21. Jahrhunderts und verstehen sie vor unserem eigenen kulturellen Hintergrund und möglicherweise so, wie wir sie verstehen wollen. Daher lässt sich nicht genau sagen, was damals wirklich gedacht oder wirklich erfahren wurde. Ich meine, wir können davon ausgehen, dass dies anders als heute war.
Es kommt auch immer auf den Verständnishorizont der Person an, die übt, was bei der Übung herauskommt. Da spielen Faktoren wie die Erwartungshaltung oder Sozialisation eine Rolle. Wenn jemand in einer buddhistisch geprägten Kultur aufwächst, hat er bereits als Kind andere Vorstellungen, Verhaltensweisen und Erwartungen verinnerlicht, als jemand, der im sogenannten Westen groß wird. Dies spielt gerade beim Verständnis von Achtsamkeit eine große Rolle.
Würden Sie zugespitzt sagen, dass drei Menschen, die Meditation üben oder Achtsamkeit praktizieren, möglicherweise zu drei sehr unterschiedlichen subjektiven Einschätzungen ihrer Erfahrung gelangen können?
Man praktiziert ja immer in einem Traditionskontext. Das heißt, man hat eine Referenz. Die ist entweder schriftlicher Natur, oder es gibt eine Lehrerin oder einen Lehrer. Diese Referenz begleitet und ordnet den subjektiven Prozess. Dazu kommt die wesentliche Frage, mit welchem Ziel man übt.
Eine große Hoffnung der Achtsamkeitsbewegung ist, dass Achtsamkeit aus sich heraus eine gesellschaftliche Veränderung herbeiführen kann. Man müsse nur eine ausreichend große Anzahl Menschen dazu bringen, Achtsamkeit zu üben, dann werde sich auch die Gesellschaft zum Guten verändern. Aber wenn jemand Achtsamkeit mit dem Ziel praktiziert, im Job effizienter zu sein, wird er doch nicht plötzlich von spirituellen Gefühlen übermannt, schmeißt seinen stressigen Job, um die Welt zu verbessern.
Ich meine, das könnte natürlich passieren, das sollte man nicht unterschätzen. Diese Diskussion „Was ist wichtiger, die Struktur oder das Individuum?“, ist speziell in Deutschland in den Sechzigern und Siebzigern ausführlich geführt worden: Aus meiner Sicht kann Achtsamkeit eine gesellschaftliche Veränderung zweifelsfrei unterstützen. Aber die Gesellschaft muss bereit sein für Veränderungen, und es ist vor allem auch politischer Wille nötig, um Strukturen zu ändern.
Die gängige Kritik aus buddhistischen Kreisen gegenüber der Achtsamkeitsbewegung ist, Achtsamkeit ohne Ethik unterstütze lediglich neoliberales Wirtschaften und stabilisiere ungerechte Verhältnisse. Würden Sie dem zustimmen?
Über ethische Leitplanken muss man nachdenken. Es gibt innerhalb des Buddhismus die Idee, dass sich die ethische Haltung aus der Übung automatisch ergäbe. Das scheint aber nicht zu stimmen, wie man an der Geschichte des Buddhismus verschiedentlich ablesen kann. Und ethische Vorstellungen stellen nicht per se eine Garantie dafür dar, dass Achtsamkeitsübungen nicht missbräuchlich verwendet werden.
Ich habe in Ihrem Buch, über das wir hier sprechen, mit großem Interesse den geschichtlichen Abriss gelesen. Sie zeichnen ein Bild einer modernen westlichen Gesellschaft beginnend mit der industriellen Revolution bis ins 20. Jahrhundert, die unter den gesellschaftlichen Veränderungen leide und nach Auswegen suche. Es gab bereits im 19. Jahrhundert stressbedingte Erkrankungen. Bei Männern die Neurasthenie und bei Frauen die sogenannte Hysterie. Kamen in dieser Atmosphäre asiatische spirituelle Techniken und Weltanschauungen wie Yoga und Buddhismus gerade recht?
Ich würde sagen, einerseits ja. Man muss sehen, dass es in jeder Gesellschaft irgendwelche Formen der Selbstkultivierung gibt. Bei Selbstkultivierung geht es um die Frage, was der Mensch aus sich macht, machen kann und sollte. In Europa waren ab dem 18. Jahrhundert zum Beispiel innerhalb der katholischen Kirche bis dahin selbstverständliche kontemplative Praktiken mehr oder minder verboten. Das heißt, es wurde damit ein wichtiger Strang religiöser Praxis abgeschnitten; das, was wir heute Mystik nennen würden. Durch die Industrialisierung verlor Religion im Allgemeinen an Bedeutung, und traditionelle Lebensweisen verschwanden. Dass wir heute selbstverständlich Zentralheizung, Kühlschränke und Computer haben, ist ein Ergebnis davon. Andererseits verschwanden durch die industrialisierte Arbeit Möglichkeiten, zur Ruhe zu kommen. Dadurch entstand ein Bedarf an Praktiken dieser Art. Aber von einer breiten Wahrnehmung des Buddhismus kann man vor den 1970er-Jahren eigentlich nicht sprechen. Erst die 68er, die Beatles, die Hippies und die Flowerpower-Bewegung bringen Meditation und Buddhismus ins allgemeine Bewusstsein. Buddhismus kommt dann auch als bereits modernisierter Buddhismus nach Europa, das heißt angepasst an die Verständnismöglichkeiten der Europäer.
Dieser modernisierte Buddhismus ist als asiatische Antwort auf ein kolonialistisches Christentum entstanden. Buddhismus als atheistische, wissenschaftskompatible Alternative, der sich dem Christentum überlegen sah. Das führt mich zu der Überlegung, ob man die Ziele einer Achtsamkeitspraxis, ein zufriedenes Leben zu führen, und die des Buddhismus, die Überwindung von Gier Hass und Verblendung, übereinanderlegen kann. Ist das letztlich nicht das Gleiche?
Ein zufriedenes Leben zu führen, ist ja durchaus erstrebenswert. Doch wo hört Achtsamkeitspraxis auf und wo fängt Buddhismus an? Da sind die Grenzen fließend, meine ich. Sie führen jedoch zu der Frage, ob man Transzendenz akzeptiert oder nicht. Das ist auch eine Diskussion innerhalb eines säkularen Buddhismus. Unsere industrielle, moderne Kultur baut auf dem Gegensatz von Immanenz und Transzendenz auf und erklärt Transzendenz zum Tabu.
Sie meinen, während Achtsamkeitspraktiken allein auf die objektivierbare Welt ausgerichtet sind, überschreitet Buddhismus diese Grenze?
Das trifft es ungefähr. Achtsamkeit ist eine kulturelle Praxis, das heißt, es gibt sie in verschiedenen Formen, mit verschiedenen Motivationen. Für die zeitgenössischen Achtsamkeitspraktiken geht es vielfach darum, den Fokus besser zu halten. Das ist eine Reparaturbewegung, um überhaupt mal so was wie eine Art von Konzentration hervorzubringen. So wie die amerikanische Neurowissenschaftlerin Amishi Jha sagte: „Achtsamkeitsübungen sind für die Aufmerksamkeit so was wie Liegestütze für die Muskeln.“ Achtsamkeit hat meist von vornherein ein Ziel. Die Menschen, die in meine Kurse kommen, haben zum Beispiel Probleme in ihrer Firma oder mit dem Chef. Von den Übungen geht der Chef nicht weg, aber die Menschen kommen immerhin mit der schwierigen Situation besser klar. So wird Achtsamkeit aber zum Opium im Marx‘schen Sinn, ein Mittel zur Betäubung der Schmerzen. Wir brauchen es, um auszuhalten. Buddhistische Praxis geht aber viel weiter.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 118: „Zufriedenheit"
Tipp zur Vertiefung: Ursula Baatz, Achtsamkeit: Der Boom – Hintergründe,Perspektiven,Praktiken Vandenhoeck & Ruprecht 2022
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Foto Ursula Baatz im Text © Lukas Beck