Im Westen sind die tantrischen Strömungen des Buddhismus weitverbreitet, dieser hebt sich mit seinen magisch-mythischen Merkmalen stark von den ursprünglichen Lehren ab.
Die Schulen des Vajrayana, die den tantrischen Buddhismus lehren, sind vor allem in Tibet, Bhutan, Ladakh, Nepal und den chinesischen Grenzgebieten zu Tibet verbreitet. Im chinesischen Kernland gab es unter dem Namen Mizong – geheime Religion – ab dem 7. Jahrhundert ebenfalls eine tantrische Tradition, die jedoch im Reich der Mitte als eigenständige Richtung keinen Bestand hatte. In Japan hingegen existiert der Tantrismus in Form des Shingon-Buddhismus bis heute.
In der Innensicht des Vajrayana-Buddhismus ist der „Tantrapfad“ der alten Lehre gleichberechtigt, die zum „Sutrenpfad“ erklärt wird. Nicht selten wird aber auch seine Überlegenheit behauptet. Das Tantra gilt als blitzschnelles Fahrzeug zur Erleuchtung. Anstelle der pessimistisch anmutenden Erlösungsperspektive des schlichten Verlöschens wird ein eher weltbejahendes Heilsszenario präsentiert. Als große Sublimierungslehre werden viele der früheren Gebote relativiert. Anstelle von strenger Askese ist nun von der „Verfeinerung“ von Wünschen und Begierden die Rede. In einigen Tantra-Fraktionen gibt es auch sexuelle Beziehungen zwischen Meistern und Schülerinnen sowie Schüler. Ja, selbst Ritualmorde werden in alten tantrischen Texten beschrieben, wo in Visualisierungsübungen – aufgeladen mit sexueller Obsession – der Penis zum Dolch wird und in der Vagina, statt neues Leben zu erzeugen, dem Gegner den Tod bringt.
Die tantrischen Buddhisten behaupten, dass das Tantra auf den historischen Buddha selbst zurückgehe. Allerdings finden sich im Pali-Kanon, der frühesten Verschriftung der Worte des Buddha, nicht die geringsten Hinweise auf Lehren und Praktiken des Tantrismus. Diesem Einwand wird vonseiten der Tantriker damit begegnet, dass der Erleuchtete entsprechende Weisungen nur an einen auserwählten Kreis besonders qualifizierter Personen weitergegeben habe. Über diese seien die tantrischen Lehren dann via geheime mündliche Überlieferungslinien und ein System überweltlicher Meister bewahrt und bis heute weitergegeben worden.
Das Tantra gilt als blitzschnelles Fahrzeug zur Erleuchtung.
Mythos und historische Wirklichkeit
Anhand verschiedener Funde ist wissenschaftlich belegbar, dass der Tantrismus in verstreuten schriftlichen Quellen um das 2. Jahrhundert nach unserer Zeit, also erstmals 700 Jahre nach Buddhas Tod auftaucht, in größerem Umfang jedoch erst ab dem 7. Jahrhundert. Einige Indologen und Buddhismusforscher sehen die tatsächlichen Ursprünge der tantrischen Lehren nicht im Buddhismus selbst, sondern in verschiedenen Schulen der Hindu-Religionen, insbesondere dem Shaktismus. Neben der indischen Tempelerotik gilt vor allem der Himalaja-Schamanismus als einer der Entstehungsorte. Vom phänomenalen Erscheinungsbild gesehen, sind die Grenzen zwischen Tantrismus und Schamanismus eher fließend. Beide verbindet der Bezug auf eine strukturierte geistige Parallelwirklichkeit sowie der Gebrauch von magisch aufgeladenen Objekten, die Präsenz von Krafttieren und Praktiken wie Anrufungen und Visualisierungen, nicht zuletzt auch die Rolle des Gurus oder Schamanen als Mittler zwischen den Welten. Obwohl die Übereinstimmungen augenscheinlich sind, mögen viele tantrische Buddhisten solche Vergleiche nicht. Sie sehen im Tantra allein die große Weiterentwicklung und Vervollkommnung der buddhistischen Lehre. Gleichzeitig sei der Tantrapfad als Reaktion auf gewisse Schwierigkeiten der traditionellen Praxis zu verstehen. So erlaube die Sublimierung anstelle harter Askese oder das Ausleben rituell gestalteter Sexualität ein zufriedeneres Leben und eine schnellere „Verwirklichung“ als der alte Pfad mit seiner strikten Einhaltung der ethischen Regeln.
Kritische Buddhisten sehen im Tantrismus dagegen eine degenerative Strömung und Pervertierung der frühbuddhistischen Morallehren. Die devote Guru-Verehrung und die unbedingte Festlegung auf einen persönlichen Meister einer Heilsübertragungslinie ist dem frühen Buddhismus ebenso fremd wie die Visualisierung von Heilsgestalten. Die ersten Buddha-Skulpturen tauchen erst Jahrhunderte nach Buddhas Erdenleben auf. Der frühe Buddhismus kennt auch keine Strategien zur Sublimierung sexueller Begierden. Sexualität ist der Akt, mit der die Wesen in das leidhafte Dasein eintreten. Das Zölibat der Ordinierten daher der konsequente Pfad all derjenigen, die nach Erlösung von der leidhaften Daseinswelt trachten. Das tantrische Spiel mit den „Polaritäten von Weisheit und Methode“ und die sexuelle Komponente sind in der Praxis oft ein Ausdruck männlicher Dominanz, belegt allein schon durch die meist großen männlichen und kleinen Körper von Figuren in ritueller Vereinigung. Ehemalige Mitglieder tantrischer Gruppen schildern zudem zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch. Statt in einer erleuchteten Alchemie der Ektase höchste Wonnen der Glückseligkeit zu erfahren, werden die Frauen zu Sexvehikeln im Dienste männlicher Guru-Ambitionen degradiert.
Die Popularität des Tantra im Wesen
Am buddhistischen Tantrismus scheiden sich die rationalen und die mystischen Geister. Es sind wohl die unerfüllten Heilssehnsüchte rationalisierter Gesellschaften, die den großen Nährboden des Tantrismus bilden. Waren die ersten westlichen Buddhisten vor allem Anhänger des Theravada, so bildet das Vajrayana heute die Mehrheitsfraktion des Buddhismus in Europa und den USA. Als im frühen 19. Jahrhundert die ersten Westler zum Buddhismus kamen, fragten sie vor allem nach den Texten der Lehre, die sie mit großer Gewissenhaftigkeit studierten. Eine Alternative zum Christentum war ihnen der Buddhismus vor allem aufgrund seiner nachvollziehbaren Erklärung der Entstehung des Leidens sowie im Aufzeigen eines Heilspfades, der nichts zu glauben verlangt, was der Vernunft und dem gesunden Menschenverstand widerspricht.
Sexualität ist der Akt, mit dem die Wesen in das leidhafte Dasein eintreten.
Mit Helena Blavatsky (1831–1891) und anderen Theosophen verändert sich allerdings die westliche Buddhismus-Rezeption. Anstelle der Pali-Texte und rationalen Gehalte trat nun immer mehr der tibetische Buddhismus ins Zentrum. Inzwischen haben die bizarre Guru-Devotionalität, der Machtmissbrauch in tantrischen Gemeinschaften und eine zunehmende Zahl von Berichten über schwere psychische Schäden bei Anhängern, die allzu tief in die tantrischen Parallelwelten eindrangen, den Tantrismus im Westen an Attraktivität wieder einbüßen lassen. Dazu kommen rassistische und fremdenfeindliche Äußerungen prominenter Obertantriker, wie des Dänen Ole Nydahl, die dann noch von vielen seiner Anhänger unter Verweis auf dessen höhere Berufung legitimiert werden. Der Meister unterliege konventionellen Wertungen und Moralvorstellungen nicht, heißt es über ihn. Die Relativierung von Ethik und Moral im Lichte einer höheren tantrischen Erleuchtungsweisheit stellt diese Lehren nicht nur in Widerspruch zum Buddhismus des Buddha, der keinerlei moralischen Relativismus duldet, sondern lässt zudem ein inhumanes und feudalistisches Weltbild erkennen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 112: „Für eine bessere Welt"
Hat der Tantrismus nun eigentlich gar nichts Positives zu bieten? Soweit er schamanischen Ursprungs ist, lebt in ihm trotz allem das Moment der direkten Berührung des Heiligen, wenn auch der Heilsweg oft durch abgründige Machtstrukturen blockiert ist. Verschwände der Tantrismus gänzlich, so ginge auch eine Anknüpfung an alte Traditionen mystischer Weisheit verloren. Aufgeklärte und Guruismus-kritische Formen dieser religiösen Praxis können also durchaus zur Bewahrung des vom Aussterben bedrohten Wissens beitragen und für Menschen mit entsprechender Disposition eine echte Hilfe für das Alltagsleben sein. Nicht zuletzt hat der Tantrismus unter den buddhistischen Schulen eine einzigartige und wunderbare Kunst und Ästhetik erleuchteter Erfahrung geschaffen – von Mandalas über Thangkas bis zu Butterskulpturen und tief spirituellen Klangwelten.
Der Meister unterliegt keinen konventionellen Wertungen und Moralvorstellungen.
Ob das Tantra nun zum Buddhismus gehört oder nicht, darüber lässt sich je nach Ausgangspunkt sehr unterschiedlich urteilen. Für die Tantriker selbst ist das natürlich noch nicht einmal eine Frage – und wenn, dann eine tabuisierte. Die Theravadins hingegen sehen allein im Frühbuddhismus die authentische Quelle buddhistischer Überlieferung. Eine altbuddhistische Reinheit der Lehre gegen spätere tantrische Degenerationen zu reklamieren, wäre aber mit Blick auf die Praktizierenden des Tantra nicht nur diplomatisch ungeschickt, sondern würde auch der Komplexität des Tantrismus nicht wirklich gerecht. Elemente wie Visualisation und Anrufung gibt es auch in anderen spätbuddhistischen Richtungen, wie der Schule des Reinen Landes.
Wer absolute Reinheit fordert, müsste also fast den gesamten Spätbuddhismus exkommunizieren. Zielführender ist es eher zu fragen, an welchen Punkten sich der Tantrismus in elementaren Fragen ethischer Lebensführung von den frühen Lehren unterscheidet und dann diese konkreten Unterschiede zu thematisieren. Fragen der Ethik sind letztlich viel wichtiger als solche der Lehrdogmatik oder der Art und Weise ganz persönlicher Erleuchtungserfahrungen, die ohnehin kaum vermittelbar sind. Bei einer Gesamtwürdigung des tantrischen Buddhismus sollte zudem nicht vergessen werden, dass, obwohl er im Westen das Gros der Anhänger stellt, er innerhalb des Weltbuddhismus doch nur eine völlig minoritäre Richtung ist. Auf keinen Fall aber wäre die buddhistische Lehre ohne die Existenz des Tantrismus unvollkommen.
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