Angst in Religion und Philosophie: Eine Tour d’Horizon durch die Geistesgeschichte der letzten 3.000 Jahre.
Angst ist eine Basisemotion, der viele Tiere, einschließlich der Menschen, unterworfen sind. Der physiologische Sitz der Angst ist die Amygdala, ein Kerngebiet und zugleich einer der ältesten Teile des menschlichen Gehirns. Das Nachdenken über die eigene Angst hat wohl spätestens mit der vom israelischen Historiker Yuval Noah Harari konstatierten "kognitiven Revolution" vor rund 70.000 Jahren begonnen. Anthropologen attestieren der Menschheit in dieser Zeit einen "großen Sprung nach vorne". Erstmals in der Menschheitsgeschichte tauchen komplexe Werkzeuge auf. Der Mensch erschafft Kunst: Felsenzeichnungen, Schmuck und Musik. Lernfähigkeit, Gedächtnis und Kommunikationsfähigkeit nehmen zu. Dokumentiert ist das Nachdenken über die Angst in vielen alten philosophischen und religiösen Manuskripten. Welche Lösungen zur Überwindung von Angst bieten die verschiedenen Geistestraditionen der Welt an? Schauen wir doch gemeinsam nach.
Im Tanach, dem Kodex der für das Judentum verbindlichen Schriften, der in etwa dem Alten Testament der Christen entspricht, ist die Angst die am häufigsten erörterte Emotion. Die ältesten Teile des Tanach gehen auf das 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurück. Unser westliches Geistesleben gründet einerseits auf jüdisch-christlicher Kultur, andererseits auf der antiken griechischen Philosophie. Beides verschränkt sich später. Der Mensch wird im Tanach als von Angst "gesättigt" beschrieben. Deutschsprachige Bibelübersetzungen geben nahezu 20 verschiedene hebräische Termini wieder, die Angst beschreiben. Sie wird hier auch synonym als "Furcht", "Unheil", "Gefahr" oder "Schrecken" bezeichnet oder als "Ehrfurcht", "Respekt‘ und "Verehrung".
Ein einheitliches Konzept oder eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Termini sucht man im Tanach vergeblich. Es fürchtet sich der Mensch, das Tier und sogar die Natur. Das Objekt der Angst ist selten der Tod und so gut wie nie die zeitgenössisch vorherrschende abstrakte Existenzangst. Das hat sicher damit zu tun, dass der Mensch in damaliger Zeit viel stärker die Gemeinschaft eingebettet und – solange er sich an die Regeln hielt – beschützt war. Es wird eher Angst vor Schmerzen, Krankheit und Hunger beschrieben sowie Angst vor fremden Menschen und vor den Gefahren der Natur.
Zur Überwindung von Angst empfiehlt der Tanach die Hinwendung zu einem schützenden und helfenden Gott, dem aber wiederum in "Gottesfurcht" zu begegnen sei. Das Angebot ist, wie später im Christentum, Angst durch das Gefühl des bedingungslosen Angenommenseins durch ein höheres Wesen zu bewältigen.
Im Pali-Kanon, den ältesten schriftlichen Zeugnissen des Buddhismus, finden wir zur Angst folgende Zeilen: "Furchtsam der Tor, furchtlos der Weise, ängstlich der Tor, angstlos der Weise, schreckhaft der Tor, schrecklos der Weise" (Majjhima Nikaya 115). Weisheit, "Prajna", ist der erste Aspekt des dreiteiligen buddhistischen Pfades, der zur Erleuchtung oder – besser – zum Erwachen führt. Der Erwachte sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Zur Überwindung von Angst wird im Buddhismus das Subjekt der Angst, das Selbst, negiert. Der Buddhist weiß, das Selbst gibt es zwar, aber es ist nicht beständig. Es verfügt über keinen festen Kern – ähnlich einer Zwiebel. Löst man Schicht um Schicht ab, bleibt am Ende nichts übrig. Das Selbst ist "bedingt", wie es im Buddhismus heißt. Es ist stetig im Fluss. Dasselbe gilt für Emotionen sowie für alle Phänomene. Sie sind substanzlos, sie sind "leer". So wird neben dem Subjekt der Angst auch die Angst selbst dekonstruiert. Wie sollte das Selbst – oder nennen wir es das Ich – sich etwa vor Krankheit und Tod fürchten, wenn es als fester Bezugspunkt gar nicht existiert?
In der Praxis lernen Buddhisten, mit Gefühlen wie Angst, Ärger oder Ungeduld umzugehen, indem sie zunächst üben, genau hinzusehen. Die Emotion wird identifiziert: "Das ist Angst." Oder: "Das ist Ärger." Danach wird beobachtet, wie sich die Emotion verhält: Sie steigt auf, ist ein paar Augenblicke zugegen und wenn ihr keine Nahrung gegeben wird, erlischt sie langsam wieder. So wird die Einsicht, dass Emotionen leer sind, trainiert. Sie verlieren auf diese Weise nach und nach die Macht über uns. Das ist nicht schwer, wenn es um die kleinen Emotionen im Alltag geht. Handelt es sich um Gewohnheiten oder gar Süchte, bedarf es einer umfassenden Erneuerung. Die in unserem Organismus tief eingravierten Strukturen müssen korrigiert werden. Grundsätzlich gilt es zu erkennen, was wirklich ist und wie die Dinge ihre Wirkung entfalten.
"Erkenne dich selbst", so lautet eine Inschrift im Tempel des Apollon in Delphi. Apollon ist der antike griechische Gott des Lichts, des Frühlings und der Heilung. Er ist zuständig für sittliche Reinheit und Mäßigung und er ist ein Künstler. Sein Metier sind die Musik und die Dichtung. Der Ausspruch "Erkenne dich selbst" soll auf den Vorsokratiker Heraklit (520 – 460 v. u. Z.) zurückgehen. Er könnte Zeitgenosse Buddhas gewesen sein. "Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken", so seine Hoffnung. Einige Erben Heraklits, die sich ihre eigenen Gedanken um die Angst gemacht haben, sind Aristoteles, Zenon von Kition und nicht zuletzt Epikur, der mir durch seine agnostische Haltung immer schon sehr sympathisch war.
Aristoteles (384 – 322 v. u. Z.), einer der meistverehrten griechischen Philosophen, bemerkt: "In Wirklichkeit liebt niemand den Furchtsamen." Dennoch erkennt er wohl als erster Denker, dass Angst eine Emotion ist, die nützlich sein kann. Er lehnt es ab, Angst generell als pathologisch oder moralisch verwerflich darzustellen. Vielmehr könne Angst helfen, zu angemessenen Überlegungen und Handlungen zu führen. Außerdem habe Angst eine kathartische Funktion. Durch das stellvertretende Erleben von Emotionen wie Rührung und Furcht werde eine Reinigung der eigenen Seele von diesen Gefühlen erreicht. Aristoteles beschreibt dies im Blick auf die griechische Tragödie, die dem Zuschauer die Gelegenheit zur Gefühlsreinigung biete. Die Vorstellung von der Katharsis ist vermutlich einer der wirkungsmächtigsten Entwürfe der Dichtungstheorie. Objektiv unbegründete Angst, zum Beispiel vor kleinen Nagetieren, gilt Aristoteles dann aber doch als krankhaft.
Zenon von Kition (ca. 333 – 262 v. u. Z.) gilt als Begründer der Stoa. Um 300 begann Zenon zu lehren. Er tat dies auf dem Markt von Athen, in der "Bunten Säulenhalle", der "Stoa Poikile". Daher hat diese philosophische Schule ihren Namen erhalten. Die Stoa erlebte zwischen dem 3. Jahrhundert v. u. Z. und dem 2. Jahrhundert n. u. Z. ihre Blütezeit und nahm enormen Einfluss auf die geistige Welt. Ihre Wirkungsgeschichte reicht bis in die Moderne. Die Stoa war eine der radikalsten Schulen der griechischen Philosophie. Sie ist pantheistisch, was damals dem allgemeinen Verständnis der Welt entsprach: Alles ist vom Göttlichen durchdrungen. Es fürchtet sich der Mensch, der Teil eines großen Ganzen ist. Alles ist mit allem verwoben und ergibt letztlich aus sich heraus einen Sinn, den der Mensch nicht immer begreifen kann. Durch rationale Einsicht aber kann höchste Weisheit erlangt werden. Durch emotionale Selbstbeherrschung und Akzeptanz seines Platzes in der Welt überwindet der Mensch seine Ängste und führt ein glückliches Leben. Der Stoiker versucht, nichts zu wollen, was er ohnehin nicht erreichen kann, und keine Angst vor Dingen zu haben, die er nicht ändern kann. Dies könnte durchaus auch ein Rezept für die Überwindung vieler Ängste der Moderne sein. Epiktet (circa 50 – 138 n. u. Z.), ein späterer römischer Stoiker, schreibt: "Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht."
Epikur (341 – 271/270 v. u. Z.) unterdessen geht einen anderen Weg zur Überwindung von Angst. Dafür wird er von den Stoikern geschmäht. Epiktet nennt ihn einen "Wüstling". Er soll sich Trink- und Essgelagen hingegeben, Prostituierte (die Hetären genannt wurden) besucht und sogar mit einer solchen zusammengelebt haben. Lange wird er als Hedonist verunglimpft. Epikurs Schüler indes rühmen seine Enthaltsamkeit und Epikur selbst schreibt: "Der Liebesgenuss bringt keinen Nutzen, man kann sogar froh sein, wenn er nicht schadet."
Der Hintergrund sowohl der Schmähungen als auch der Würdigung ist derselbe. Epikur betont: "Nichts im Übermaß." Der Besuch bei einer Hetäre, aber ebenso das Trinkgelage ist nicht verboten. Es kommt lediglich auf das Maß an. Das erinnert an den "Mittleren Weg", den Buddha uns ans Herz gelegt haben soll. Aber die Stoa und Epikur hatten auch einiges gemeinsam. Beide sahen Angst als künstliche Emotion an, der mit Gelassenheit (ataraxie) zu begegnen sei. Epikur identifizierte drei Hauptfelder, die den Menschen Angst machen: die Angst vor dem Tod, die Angst vor den Göttern und die Unlust. Das Konzept der Unlust bei Epikur ist interessant. Er versteht darunter die Abwesenheit von Lust. Lust ist immer dann abwesend, wenn der augenblickliche Zustand keine Freude bereitet. Wenn man Schmerzen verspürt oder Dinge haben möchte, die man nicht haben kann. Epikur macht keinen Unterschied zwischen physischem und psychischem Unwohlsein.
Die Epikureer strebten einen angstfreien Zustand an, indem sie sich einerseits die richtige Sichtweise auf die Welt aneigneten und sich andererseits durch die richtige Lebensweise von Unwohlsein loslösten. Die Lust sollte geschickt, ohne zu Übertreibungen zu neigen, in das eigene Leben integriert werden. Felder der Lust sind bei Epikur vor allem das Musikhören, das Betrachten von Kunstwerken und nicht zuletzt das Philosophieren.
Die Angst vor dem Tod ist besiegt, wenn man erkennt, dass dieser den Menschen im Grunde nichts angehe, weil er kein Ereignis des Lebens sei. Wenn man tot ist, weiß man nicht, dass man tot ist, weil man ja tot ist. Für einen selbst ist es deshalb gar nicht schlimm, tot zu sein. Nur für die anderen ist das schlimm. Die Angst vor den Göttern wird dadurch entmachtet, dass man zur Einsicht gelangt, dass die Götter in einer abgetrennten Sphäre existieren (wenn überhaupt) und sich für die Sterblichen nicht interessieren. Die Frage des Unwohlseins wird durch ein maßvolles Leben gelöst. Weder Askese noch Hedonismus werden angestrebt. Weiters wird uns das Wissen um die Grenzen des eigenen Strebens als Lösung angetragen. Auch an dieser Stelle sind sich Epikur und Zenon von Kition wieder einig.
Schauen wir in die Neuzeit und werfen zum Abschluss noch einen kurzen Seitenblick auf den Dänen Søren Kierkegaard (1813 – 1855), den deutschen Philosophen Karl Jaspers (1883 – 1996) und den französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre (1905 – 1980). Kierkegaard stellt als Erster fest, dass Angst und Furcht zwei verschiedene Angelegenheiten sind. Angst ist in seinen Überlegungen ungerichtet und gegenstandslos. Furcht dagegen richtet sich auf konkrete Gegenstände oder Sachverhalte. Für Kierkegaard hat Angst aber auch immer eine anziehende Wirkung. Diese bestehe darin, dass der Mensch in seiner Angst seine Freiheit gegenüber seinen Trieben und seinen Gefühlen begreife. Sie gäbe ihm die Möglichkeit, gestaltend in sein Leben einzugreifen.
Sartre nimmt diesen Gedanken in seinem Werk "Das Sein und das Nichts" auf. Laut Sartre bezieht sich die Angst auf das Spannungsfeld dessen, was ist, und das, was sein könnte. Man erfahre sich in der Angst als Verantwortlicher seines Schicksals. Das sei Freiheit. Die Freiheit, seiner Zukunft eine eigene Richtung zu geben. Die Triebfeder dieses Handelns sei die Angst, zu scheitern, und letztlich die Angst vor dem Nichts.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 109: „Angst überwinden"
Jaspers weist dann darauf hin, dass diese existenzielle Angst nicht überwunden werden könne. Sie gehöre untrennbar zum Menschsein dazu. Ja, sie sei sinngebend für das menschliche Dasein.
Wir sehen, die Geistestraditionen der Weltgeschichte sind ein enormer Schatz. Wir dürfen aus ihm schöpfen. Meine Angst vor dem Tod etwa konnte ich überwinden, indem ich mir Epikurs Überlegungen zu eigen machte. Ich werde nicht wissen, dass ich tot bin, weshalb sollte ich mich vor diesem Zustand fürchten? Jaspers Feststellung, dass existenzielle Angst untrennbar zum Menschen gehört, hat ebenfalls dazu beigetragen, dass ich heute gelassener bin. Ich muss sie nicht mehr bekämpfen, die verdammte Angst. Ich kann beginnen, mit ihr zu arbeiten. Es gibt kurze Augenblicke der absoluten Klarheit. Ich weiß plötzlich, Angst ist substanzlos – wie alles andere auch. Leider gehen diese Momente immer schnell vorüber. Dann übe ich weiter.
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