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Diskurs

Octavio Ocampos Bild ‚Der ruhende Buddha‘ als Metapher für eine intensivierte Lebensbetrachtung. Ein Kunststil mit besonderer spiritueller Tiefe kommt aus Mexiko: die Metamorphische Kunst.

Ihr Begründer beschäftigt sich mit den vielfachen Dimensionen der Wirklichkeit, der Kreativität und des Traumes: Octavio Ocampo (* 1943). Seinen Stil nennt er metamorphisch, weil sich die Elemente seiner Bilder je nach Perspektive und Abstand zum Betrachter immer wieder neu konfigurieren und verändern. Seine Kunst ist eine Einladung, die Vielschichtigkeit des Seins zu entdecken. Das Entstehen der Erscheinungen in gegenseitiger Abhängigkeit und Bedingung wird hier visuell erfahrbar.


Aus seinem umfangreichen Œuvre schauen wir uns hier exemplarisch das Bild ‚Ruhender Buddha‘ an. Was springt Ihnen bei diesem Bild als Erstes ins Auge? Sind es die verschiedenen Ausprägungen des Wetters: rechts schwerer Niederschlag, links helles Licht? Sind es die Berge, Felder und Baumreihen, der sanft mäandernde Bach? Ist es die großdimensionierte Gestalt des ruhenden, androgyn erscheinenden Buddha? Oder sind es ganz im Vordergrund die Neuankömmlinge auf indischen Elefanten?

Lassen Sie uns die Reihe der Ankömmlinge etwas genauer betrachten: Gerade noch reich ausstaffiert, steigen sie ab, teilen großzügig ihre Kostbarkeiten, befreien sich von ihren geschmückten Gewändern, kleiden sich in Mönchsroben und überqueren den Bach. Offensichtlich wollen sie sich einer Gruppe Meditierender anschließen, die im Kreis sitzen und andächtig ihrem Meister lauschen, von dessen Stirn aus helles Licht strahlt. Und im Himmel: Erkennen Sie bei näherer Betrachtung auch die fliegenden Dakini, Himmelstänzer, Engel ...? Bemerken Sie die versteinerten Figuren in der schneebedeckten Bergkette? Vieles gibt es zu entdecken.

Den Kreis der Meditierenden haben zwei Mönche verlassen – sie befinden sich auf dem Weg hin zu Buddhas Gesicht. Mitten in Buddhas erleuchtetem Antlitz vollzieht sich zugleich ein tiefer Transformationsprozess. In Miniaturformat liegt wie in einen Kokon eingehüllt ein Mensch auf seiner rechten Seite, von vier wachenden Freunden begleitet. Bedeutet seine Metamorphose bereits das Verlassen seiner leiblichen Hülle? Entschwindet sein Geist schon in Form des Vogels, der über ihm schwebt? Oder findet eine tiefe Transformation inmitten seines aktuellen Erdenlebens statt?

LebensbetrachtungFoto © Octavio Ocampo 2006 "Buda reclinado"


All dies scheint innerhalb des dargestellten jungen, zeitlosen, erhabenen, weit ausgedehnten Buddha möglich zu sein. Er umfasst Hügel und Felder, eine Baumschule, Pfade ... Sein Gesicht ruht geborgen im Schatten des Baumes, der zugleich seinen Haarschopf bildet. Buddhas feine, entspannte, liebevolle Gesichtszüge verkörpern hier den Transformationsprozess, den die Wesen innerhalb seines Wirkkreises durchleben. 


Der Tenor des gesamten Bildes ist eine große Metamorphose der Hingabe an das Leben bis hin zum stufenweisen Loslassen des Materiellen. Jeder Betrachter ist dazu eingeladen, auf persönliche Entdeckungsreise zu gehen und eigenen Wahrnehmungen zu folgen. Vielleicht haben Sie Freude daran, sich einmal zu überlegen, an welcher Stelle des Bildes Sie sich selbst am ehesten wiederfinden?

Wie bei allen Gemälden Ocampos stehen die verschiedenen Wahrnehmungsebenen beim ‚Ruhenden Buddha‘ komplementär zueinander. Was innerhalb der einen Sichtweise beispielsweise Buddhas Haarschopf ist, wird in der anderen zu einem vom Wind gebogenen Baum. Und umgekehrt! Das entspricht dem Gedanken, dass in der Welt nichts auf eine einzige Funktion reduziert werden kann. 

Im Buddhismus wird diese Erkenntnis weiter ausgeführt. Shunyata (Sanskrit für ‚Leerheit‘) bedeutet, dass kein Ding oder Wesen alleine für sich selbst existiert, sondern in wechselseitiger Abhängigkeit und Bedingung zu allem anderen im Universum steht. Erst in der Interaktion mit anderen bekommt es eine konkrete Bedeutung, Rolle oder Funktion. Daraus entfalten sich vielfältige Spielarten – es eröffnet sich ein grenzenloses Feld. Somit bedeutet Leerheit zugleich auch immer Fülle. Wandel und Transformation werden möglich. 

In Ocampos Bild bedingen sich die Ebenen gegenseitig, sie bringen einander hervor. Der Erleuchtete wirkt sehr feinfühlig in seine gesamte Umgebung eingebettet; diese umgibt, trägt und nährt ihn. Aber auf eine Weise ist es zugleich der ruhende Buddha selbst, der den Menschen, Wesen und Ausprägungen der Natur, die er hier beherbergt, ihren Raum schenkt. Diese Wechselwirkung kann als eindrucksvolle Metapher dafür gesehen werden, wie sich alles im Universum gegenseitig trägt und nährt. 

Immer wieder neu entspringt das Leben aus sich selbst, wächst und transformiert sich. Aus buddhistischer Sicht bringt sich alles wechselseitig ins Dasein. Gibt es zur Entstehung beispielsweise des vom Wind gebogenen Baumes eine rein lineare Kausalkette? Man könnte versuchen, die Erzählung bei den idealen Keimbedingungen für den Baum zu beginnen – aber hängen diese ihrerseits nicht wiederum von allem anderen ab?

Und noch ein Detail aus dem Bild: Unterhalb von Buddhas rechtem Arm befindet sich ein Gesicht, das aus Ackerboden geformt ist und in verinnerlichter Stimmung nach oben blickt. Ich möchte Sie einladen, sich einmal spielerisch in dieses Gesicht hineinzuversetzen. Ob es die Szene mit dem Menschen im Transformationsprozess und den vier Wachenden wahrnehmen kann? Es schaut ja aus einer völlig anderen Perspektive als der Betrachtende, der von vorne auf die Erscheinung des ruhenden Buddha blickt. Erlebt das irdene Gesicht den Baum, die Vögel und die fünf menschlichen Gestalten ebenfalls als eine Ausprägung des Buddha? Oder spürt es vielleicht auf seine ganz eigene Weise die besondere Energie des Ortes? Auf jeden Fall schaut es gelassen, friedlich, sogar fürsorglich nach oben. 

Diese Gedankenspiele bringe ich in Verbindung mit einer Aussage des tibetisch-buddhistischen Lama Tilmann Borghardt: Wenn wir uns den Buddhas zuwenden und sie uns in unmittelbarer Nähe vorstellen, seien sie, so Lama Tilmann, ‚jenseits von existent und nicht existent‘. Es ist die Kraft unseres Geistes, die sie zu uns bringt. Vielleicht auch eine Blickrichtung auf das Leben? Die Perspektive ist bei jedem unterschiedlich, gegenseitig können sie sich bereichern. 

Im Buddhismus besteht ein Königsweg, um zu vollständigem inneren Frieden zu finden, aus Meditation und rechter Lebensführung. Dieser Pfad kann den Praktizierenden letztlich sogar in andere Sphären des Seins führen, die von innerer Freiheit bei gleichzeitiger vollkommener Verbundenheit zu allen Wesen gekennzeichnet sind. Die Harmonie des ‚Ruhenden Buddha‘ zeigt einen Traum auf, der in diese Richtung weist. 

Vielleicht mag es verwundern zu erfahren, dass sich der Künstler Octavio Ocampo zum christlichen Glauben bekennt. Erklärterweise engagiert er sich für interreligiösen Dialog auf der Ebene des Herzens. Seine Metamorphische Kunst ist ein Beispiel dafür, dass Künstler, Mystiker und Praktizierende verschiedenster Prägung oft zu ähnlichen Erfahrungen gelangen, wenn sie sich den vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens zuwenden und sich auf die Erkundung letztendlicher Wirklichkeit einlassen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 108: „Anleitung zum Glücklichsein"

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Die Beschäftigung mit der Metamorphischen Kunst kann dazu beitragen, bei Spaziergängen in der Natur intensiver in das vielgestaltige Leben einzutauchen. Das Kreisen der Vögel am Himmel, in dynamischer Bezogenheit zueinander, beflügelt beim Zusehen. Die Ausrichtung der verschiedenartigen Pflanzen zum Licht berührt wie eine Geste der Öffnung und Hingabe. Durch feinfühliges Betrachten von Octavio Ocampos Kunst kann sich die Empathie für die Menschen und für die unzähligen Lebewesen vertiefen. So lässt sich ein allzu funktionell ausgerichteter Alltag mit kreativen Ideen bereichern und ein multidimensionales Denken pflegen. Das Ziel dabei ist, tief in sich selbst anzukommen.

Ocampos Bilder weisen bis zu fünf Wahrnehmungsebenen auf. Sie erschließen sich, indem man beim Ansehen der Gemälde den Blick wechselweise entspannt, als wolle man durch das Bild hindurchsehen, und ihn dann auf einzelne Details fokussiert. Es entsteht eine Eigendynamik, ein Wechselspiel, und das Bild transformiert sich stets von neuem. Ebenso lassen sich die verschiedenen Ebenen wahrnehmen, indem man dasselbe Gemälde aus unterschiedlichen Abständen betrachtet. 

Aus Octavio Ocampos Œuvre strahlt uns eine Fülle entgegen, die auf künstlerischer Ebene erlebbar macht, wie im Universum alles miteinander in Verbindung steht und sich in stetiger Veränderung befindet. In den Worten des griechischen Philosophen Heraklit, Zeitgenosse des Buddha Gautama, klingt dieser Gedanke so: „Nichts ist so beständig wie der Wandel.“

Sylvia Führer (‚Fabiola‘) arbeitet als Spanisch- und Musiklehrerin in Freiburg im Breisgau und ist seit über zehn Jahren mit dem Dharma verbunden. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Zeitschriftenartikel. www.sylvia-fuehrer.de
Tipps zur Vertiefung:
Sylvia Fabiola, Gesichter der Liebe – Von Octavio Ocampo beflügelt – Inspirationen für das Herz, BEST-Off-Verlag, Regensburg 2018

Octavio Ocampo, Arte Metamórfico, viersprachiger, großer Kunstband, Edition Olms, Zürich 2013 

Bilder © Pixabay

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