Der französische Komponist und Autor André Stern hat nie eine Schule besucht. Er spricht über das Entdecken der eigenen Stärken und wünscht sich weniger Leistungsdenken und mehr Freiheit.
Schulpflicht für Kinder gilt als Errungenschaft der zivilisierten Welt. Sie denken anders, warum?
Spielen ist das beste Lernwerkzeug. Je mehr Kinder spielen, desto mehr lernen sie. Alles, was ein Kind so aufnimmt, bleibt für immer, es wird es nie vergessen. Entwicklung passiert von selber, in den ersten neun Monaten im Bauch, gefolgt von der Geburt und den ersten Lebenswochen. In diesen Phasen ist noch keinem in den Sinn gekommen, einem Kind etwas beizubringen. Es ist ein selbstständiger Prozess, der nicht gebremst werden kann. Darauf sollte man vertrauen.
Was brauchen Kinder?
Ich weiß das nicht, und niemand kann das wissen. Wonach sie sich aber sehnen, ist: „Ich habe dich lieb, weil du so bist, wie du bist.“ Es geht nicht darum, diese oder jene Methode umzusetzen, sondern darum, wie Kinder wahrgenommen werden. Damit meine ich eine Haltung.
Bedeutet das, keine Erwartungen haben zu dürfen?
Kinder teilen uns ihre Bedürfnisse ja mit. Die meisten Eltern haben aber meist viele eigene Wünsche und wollen, dass Kinder ihren Erwartungen entsprechen. In Kindern kann dadurch das Gefühl entstehen, sich verändern zu müssen. Das ist für die Entwicklung nicht förderlich.
Wie also sollten sich Erwachsene Ihrer Meinung nach verhalten?
Kinder brauchen gar keine Unterstützung. Es geht vielmehr darum, ihnen keine Steine in den Weg zu legen. Sie brauchen einen sicheren Hafen, einen Ort, an dem sie geliebt werden, so wie sie sind. Wenn Eltern das schaffen, haben sie alles richtiggemacht.
Wie lernen Kinder?
Die Muttersprache lernt jedes Kind ohne festen Zeitpunkt, ohne organisierten Unterricht, ohne besonderen Rhythmus, ohne Didaktik und zu einem vom Kind selbst gewählten Zeitpunkt. Kinder brauchen aber andere Menschen dafür. Wir lernen das, was andere rund um uns praktizieren. Genau so könnte es mit allen anderen Fertigkeiten auch sein.
Wie meinen Sie das?
Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen sind ja ständig präsent. Es geht gar nicht, sie nicht zu lernen. Ich konnte zum Beispiel mit acht Jahren lesen und mein Sohn mit zweieinhalb. Von ihm sagte man: „Oh, so früh!“ Und von mir: „Ach, so spät!“ Was ich damit sagen will: Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt beim Lernen.
Sondern?
Kinder trennen anfangs Spielen und Lernen nicht. Doch ab dem Moment, in dem Erwachsene einen bestimmten Rhythmus, eine Methodik oder einen festen Zeitpunkt etablieren wollen, der Kindern nicht entspricht, wird Lernen zu Arbeit. Diese Erfahrung kann Lernen zu etwas lebensbegleitend Unangenehmem machen. Das sollte man doch zu verhindern versuchen.
Wie war es, ohne Schule aufzuwachsen?
Das, was ich erlebt habe, würde jedes Kind erleben, wenn man ihm vertrauen würde. Wir lassen unsere beiden Söhne in Ruhe, schicken sie nicht zur Schule, es sei denn, die beiden möchten in die Schule gehen. Wir haben kein Dogma. Auch ich hätte jederzeit in die Schule gehen können, ich wollte nur nicht.
Wie verändert das die Sicht auf die Welt?
In unserer Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, wie Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Noch nie wurde ich gefragt: Wie lernen sie Kochen, Tanzen und Singen? Es gibt große Unterschiede in der Bewertung von Fertigkeiten. Diese Hierarchien setzen sich dann im Berufsleben fort: Ein Astronaut gilt als ganz toll, ein Fensterputzer weniger.
Was bedeutet das?
Kinder sehen die Welt ohne Hierarchien, machen keine Unterschiede zwischen Gender, Größe oder Alter. Ein Beispiel: Ein dreijähriger Junge sitzt unter Ballettschülerinnen. Die Ballettlehrerin sagt: „Junge, hast du nicht gesehen, dies ist ein Kurs für die Großen.“ Der Kleine antwortet: „Ich bin ja groß.“ Da meint die Lehrerin amüsiert: „Hast du gesehen, dass es ein Kurs für die Mädchen ist?“ Darauf der Kleine: „Ich bin ja ein Mädchen.“ So sehen die Kinder die Welt. Ich sehe es als Einladung, die Welt so offen zu betrachten wie Kinder.
Wie geht es mit dieser Offenheit als Erwachsener weiter?
Wir sollten ein Leben lang unseren Veranlagungen folgen. Wenn die Menschen sich selbst ernst nehmen, würden sie auch stärker auf ihre ursprünglichen Veranlagungen hören. Es würde eine Gesellschaft entstehen, die wir uns gar nicht vorstellen können.
Die Frage der Work-Life-Balance wäre hinfällig?
Konfuzius hat gesagt: „Wähle einen Beruf aus, der dir Freude macht, und du wirst nie zur Arbeit gehen.“ Heute machen viele den Unspaß in der Arbeit mit dem Spaß in der Freizeit wett. Wir haben gelernt, Dinge zu trennen, die untrennbar sind. Die eigentlich richtige Balance hat man, wenn man ein Leben führt, in dem das, was man tut, Begeisterung findet.
Wie haben Sie Ihren Job gewählt?
Meine Jobs haben mit gefunden, nicht ich sie. Es ist kein persönliches Verdienst, dies würde jedem passieren, der brennt für das, was er macht. Das war bei Steve Jobs so, bei Albert Einstein und Leonardo da Vinci. So wie sie hat auch jeder andere eine besondere Veranlagung in sich. Es ist schade, wenn sie unentdeckt bleibt. Eines meiner Anliegen ist es zu vermitteln, dass in uns allen ein Genie steckt.
Wie lassen sich persönliche Potenziale entdecken?
Es ist eine Wahrnehmung dessen, was uns begeistert. Ich kann also nur jeden dazu einladen, sich auf die Suche zu machen. Oft sind die eigenen genialen Fähigkeiten verschüttet von vielen Erwartungen. Wer sie entdeckt, hat alle Möglichkeiten.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 103: „Buddha und die Arbeit"
Es wäre eine Welt voller Begeisterter?
Ich habe keine Ahnung, wie das dann aussähe. Die Welt von Kindern jedenfalls ist sehr kreativ und offen.
Wer macht dann die unkreativen Arbeiten?
Wer würde Müllmann sein, ist die Frage, oder? Unser Problem ist, dass wir viel zu starre Hierarchien im Kopf haben. Ein Kind begegnet diesen Berufen und lernt von seinen Eltern schnell die Kategorien. Aber stellen Sie sich vor, diese würden sich auflösen. Wenn es nach meinem erstgeborenen Sohn Antonin ginge, wäre er unter der Woche Astronaut und am Wochenende Müllmann. Erwachsene können sich so eine Welt eben nicht vorstellen. Sie haben viel zu fixe Ideen.
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