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Diskurs

Wahrheit oder Lüge, Propaganda oder ehrliche Recherche sind oftmals nicht leicht voneinander zu unterscheiden.

„Die Welt ist eine Illusion“ – so lautet ein Kernsatz des Mahāyāna -Buddhismus. In einer Illusion ‚Tatsachen‘ zu suchen ist nur eine neue Illusion, betonte Nāgārjuna . Nun häufen sich in den Äußerungen und Veröffentlichungen westlicher Regierungen Begriffe wie ‚Propaganda‘ oder ‚Fake News‘ als Vorwurf an politische Gegner. Populistische Kritiker kontern mit ‚Lügenpresse‘. Hat die deutsche Bundeskanzlerin recht: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten“? Politikhörig kürte man auch ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres 2016. Sind Wahrheit und Fakten irrelevant geworden? Zeigt sich hier nur an der Oberfläche, was im Buddhismus immer schon gesagt wurde? Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. Es ist wichtig, angesichts der zunehmenden Sprach- und Denkverwirrung das Verhältnis von Fakten und Illusionen ein wenig tiefer zu betrachten.

Bevor ich auf die aktuelle Diskussion genauer eingehe, ein paar Bemerkungen zum buddhistischen Verständnis vorweg – das, wie fast immer, hier durchaus klärend und erhellend ist. Inwiefern bezeichnet man Dinge im Buddhismus als illusionär? Illusionär ist nur der Glaube, dass Dinge, dass Tatsachen aus sich selbst existieren. Nur relativ zur Erkenntnis, relativ zum Geist gibt es Tatsachen. Und sie sind nur, was sie sind, in Abhängigkeit von vielen anderen Tatsachen. Tatsachen sagen uns vor allem nicht von sich her, was sie sind. Eine Rose ist nur relativ zu einem Auge rot; sie wächst nur in Abhängigkeit vom Boden, von Wasser und Sonne. Ob in den USA – wie jüngst vermeldet – ‚Vollbeschäftigung‘ herrscht, hängt ab von dem statistischen Messverfahren. Die offizielle Arbeitslosenrate klammert einfach die Menschen aus, die gar keine Arbeit mehr suchen, und sie ignoriert die Tatsache, dass vor allem sehr schlecht bezahlte Teilzeitjobs entstanden sind. Tatsachen sind also nur eine relative Wahrheit. Und was man als ‚tatsächlich‘ betrachtet, hängt ab von der Denkform, in der man sie beobachtet. „Den Dingen geht der Geist voran. Der Geist entscheidet“, sagte der Buddha. Das heißt: Eine Tatsache ist nur für den Geist eine Tatsache. Ohne Subjekt kein Objekt.

Wir leben in einer medialen Öffentlichkeit, in der Wahrheit und Lüge, Propaganda und ehrliche Recherche nicht mehr unterscheidbar scheinen.


Hier sind zwei wichtige Sachverhalte zu unterscheiden: Erstens sind Tatsachen immer zugleich Interpretationen und insofern ‚subjektiv‘. Nur wenn viele Menschen zur selben Schlussfolgerung kommen, falls sie etwas kritisch überprüfen und sich dabei auch auf ein vergleichbares Prüfverfahren einigen, sind Tatsachen ‚objektiv‘. Zweitens aber bleibt das Bewusstsein von den Tatsachen getrennt. Es bildet eine eigene Sphäre: im alltäglichen Reden, in den Medien – Fernsehen, Internet, Zeitungen –, auch im wissenschaftlichen Diskurs. Und wie jeder Spielfilm zeigt, kann man Inhalte sehr gut vorgaukeln. Wir lieben das sogar, lieben Fiktionen, die uns Geschichten erzählen, Illusionen erzeugen. Man kann einem Gedanken, einem Satz, einem Bild auf den ersten Blick nicht ansehen, ob sie sich auf eine gemeinsame Erfahrung, auf eine etwa physikalisch überprüfte Wirklichkeit beziehen, oder ob es sich um reine Erfindungen handelt. Dies wiederum ist selbst eine Tatsache.
Eben weil das so ist, weil das schon immer – auch ohne Kino und Internet – bekannt war, haben alle Religionen die Regel ‚Du sollst nicht lügen!‘ in ihren ethischen Katalog mit aufgenommen. Man kann nämlich bewusst Tatsachen vortäuschen – jeder weiß das und dennoch fallen wir immer wieder auf gemachte Illusionen, auf das Vor-Täuschen herein. Das Täuschen geschieht manchmal unabsichtlich: Man hat sich verhört, ein Foto ist verzerrt, ein Messgerät war defekt oder eine Perspektive erweist sich als zu einseitig. Darum fügt man in den empirischen Wissenschaften der Forderung nach intersubjektiver Vergleichbarkeit aller Ergebnisse noch die Forderung nach ihrer Wiederholbarkeit hinzu.

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Nun ist es gerade diese zweite Forderung, die bei historischen Tatsachen nicht erfüllt werden kann. Wir können nicht experimentell herausfinden, wann und wo genau Buddha oder Jesus geboren wurden. Wir müssen Berichten vertrauen oder archäologische Funde heranziehen und interpretieren. Die Geschichte liegt aber nicht nur in der Vergangenheit: Wir erleben sie alltäglich neu. Doch was ‚ist‘ diese Geschichte? Das, was Medien täglich berichten? Die tägliche, in jedem Land doch eher ‚regierungsfreundliche‘ Berichterstattung? Oder das, was darin verschwiegen wird? Sind etwa wirtschaftliche Fakten das, was Börsen-Charts zeigen, oder nicht viel eher das, was hinter verschlossenen Türen der Wirtschaft gemauschelt wird?

Wir leben in einer medialen Öffentlichkeit, in der Wahrheit und Lüge, Propaganda und ehrliche Recherche nicht mehr unterscheidbar scheinen. Mehr noch, immer häufiger bekennen sich auch einflussreiche Verantwortliche dazu, nicht nur nicht die ganze Wahrheit zu sagen, sondern gezielt falsch zu informieren. Typisch ist eine Äußerung von Ernst Helmstädter, früher Mitglied des deutschen Sachverständigenrats: „Zur Warnung vor Fehlentwicklungen eben schon mal eine Fehlprognose!“ Gezielt gestreute Fehlinformationen sind im 20. Jahrhundert zu einer ‚Wissenschaft‘ geworden, vor allem durch die Schriften Edward Bernays’. Die Kunst der Propaganda – höflich: PR – besteht darin, Elemente von Fakten so zu kombinieren, einzubetten, zu umschreiben, dass daraus eine Lüge wird. Eine Lüge, die für irgendjemanden allerdings nützlich ist. In der Presse wird dies dann umschrieben mit ‚nach bislang unbestätigten Quellen‘ oder ‚wie aus bestimmten Kreisen verlautet‘ – um daran eine kunstvoll gestrickte Geschichte zu knüpfen, die nur eine Aufgabe hat: bestimmte Meinungen, Haltungen oder Handlungen zu begünstigen oder auszulösen. An der Börse wird dies systematisch genutzt und sogar durch Computer immer mehr angewandt: Beim ‚Robotrading‘ machen Programme massenhafte Scheinangebote an die Märkte, wodurch die Kurse auf gewünschte Weise beeinflusst werden – Angebote, die nach eingestrichenem Kursgewinn sofort zurückgezogen werden. Das sind schlicht Lügen zum eigenen Vorteil – doch fast niemanden scheint dies zu bekümmern; außer es wird dadurch ein Crash ausgelöst, und selbst dann bleiben die Täter unbehelligt. Hier schaffen Illusionen ‚harte‘ Tatsachen, sehr lukrative und für die große Masse der Bevölkerung sehr nachteilige Tatsachen.
Ich möchte hier nicht das heiße Pflaster vergleichbarer Halbwahrheiten, Lügen oder durch Auslassungen verfälschter Verlautbarungen von Regierungen, Organisationen und Institutionen betreten. Vieles davon läuft unter dem Kampfbegriff ‚Verschwörungstheorie‘. Eine ruhige, vernünftige Diskussion darüber findet in den Medien kaum noch statt. Im ‚Info-War‘ gegenseitiger Beschuldigungen lassen sich von allen gemeinsam anerkannte ‚Tatsachen‘ so gut wie gar nicht mehr identifizieren. Und auf den ersten Blick sind in oft diametral gegensätzlichen Berichten vorausgesetzte ‚Fakten‘ nicht als solche zu erkennen.

Viele bewusst als Lügen erzeugte Illusionen über die tatsächlichen Verhältnisse sind bis heute unaufgeklärt, ungesühnt oder schlicht vergessen.


Einige der plumpsten Lügen in der Politik wurden später aufgedeckt: Als am 3. Februar 2003 Colin Powell, der US-Außenminister, vor der UN seine ‚Beweise‘ für Massenvernichtungswaffen im Irak vorlegte, war nahezu jedes Wort gelogen, was er später durchaus zugab. Die Zeitung ‚Die Welt‘ vom 5.3.2013 spricht bis heute völlig verharmlosend von Powells ‚unglücklichster Rede‘. Die Mitverantwortung für Hundertausende an Toten wird einfach ignoriert. Und das ist nur ein Beispiel. Viele bewusst als Lügen erzeugte Illusionen über die tatsächlichen Verhältnisse sind bis heute unaufgeklärt, ungesühnt oder schlicht vergessen.

Was kann uns das über ein richtiges, ein ethisches Urteil über das öffentliche Bewusstsein, an dem wir täglich teilhaben, lehren? Wenn man die Extreme von Resignation, Zorn oder einer einseitigen Radikalisierung – wie sie in den neuen populistischen Bewegungen zu beobachten ist – vermeiden möchte, kann tatsächlich die buddhistische Lehre einen wichtigen Wink und praktikablen Hinweis geben. Hierzu ist zuerst unsere Situation in der Welt kurz noch einmal vor Augen zu führen. Wir alle haben in einem bestimmten Bereich durchaus große Sachkenntnis – sei es im Umgang mit Menschen, im Beruf, auch in der Forschung, in der Wissenschaft. Doch die unüberschaubare gegenseitige Abhängigkeit der Vielfalt unseres Lebens ist für niemanden völlig erkennbar. Allerdings: Die Tatsache selbst, das heißt, dass es diese gegenseitige Abhängigkeit gibt, ist leicht zu verstehen. Kein Faktum existiert aus sich selbst, frei von Interpretation. Dies fordert geradezu eine prinzipiell kritische Haltung heraus. Und es war der Buddha selbst, der in seiner Rede an die Kalamer genau dazu aufgefordert hat. Er sagt, kurz zusammengefasst: „Geht nicht nach Hörensagen, nach der Meinung der Mehrheit, nach – scheinbar – wissenschaftlichen oder religiösen Autoritäten, nach vorschnellen logischen Argumenten – kurz, übernehmt nicht einfach Meinungen. Wenn ihr aber selber erkennt, dies oder das ist schädlich und verursacht Leiden, dann gebt diesbezügliche Gedanken und Handlungen auf.“


Es gibt gerade in der Politik kein unfehlbares Wissen, nur Meinungen. Und bei Meinungen können wir nicht auf den ersten Blick den Anteil der Halb- und Unwahrheiten darin erkennen, können nicht sagen, ob sie auf Tatsachen gründen oder Illusionen verbreiten wollen. Es ist deshalb wichtig, den ‚Palast der Illusionen‘ zu verlassen und auf das zu blicken, was die von politischen Meinungen verursachten Handlungen tatsächlich bewirken. Ich denke bei ‚Palast der Illusionen‘ natürlich an die Geschichte des Buddha, den sein Vater von der Wirklichkeit fernhalten wollte in einer Welt der erfüllten Wünsche und Träume. Der Buddha hat diesen Palast verlassen, um sich ‚draußen‘ mit dem Leben der Menschen in ihrer keineswegs immer erfreulichen, letztlich leidhaften Tatsachenwelt zu solidarisieren.

Kein Faktum existiert aus sich selbst, frei von Interpretation.


Doch wo – so wird man fragen – ist eigentlich heute in einer postfaktischen Medienwelt ‚draußen‘? Alles, was wir über die Welt im weiteren Umkreis wissen, erscheint uns wiederum in den Medien, das heißt, erneut im ‚Palast der Illusionen‘. Das ist richtig – als Extrem festgehalten, aber irreführend. Es gibt eine relative Wahrheit. Ich will das an einem Beispiel erläutern, das im Internet und in den USA heiß diskutiert wird: dem Klimawandel. Wie könnte man hier – mit dem Buddha gesprochen – ‚selbst erkennen‘? Es handelt sich um einen langfristigen Trend, der sich nicht täglich mit dem Thermometer messen lässt, der nur für lange Zeiträume zutrifft und bei dem wir alle auf Expertenmeinungen angewiesen sind. Sollen wir den durch die Koch-Brüder finanzierten ‚Wissenschaftlern‘ glauben, die seit rund 20 Jahren systematisch von einem ‚Climate-Hoax‘ sprechen? Sollen wir Donald Trump glauben, der darin einen Schwindel der Chinesen sieht, um die Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft zu schwächen? Oder vertrauen wir der großen Mehrheit der Wissenschaftler vom IPCC, dem Klimarat? Doch auch Vertreter des Klimarates haben schon Fehlprognosen abgeliefert. Was also tun? Anders als im Internet vielfach suggeriert wird, stehen hier gerade nicht gleichwertige Meinungen nebeneinander. Man kann heute selbst durchaus vieles auf Glaubwürdigkeit prüfen. So ist zum Beispiel die Temperaturkurve gerade in den letzten zwei Jahren – gegen die früheren Behauptungen der Klimawandel-Leugner – drastisch angestiegen. Man kann sogar eigene Erfahrungen heranziehen: Wenn Gletscher sichtbar schrumpfen, obgleich sie Jahrhunderte selbstverständlicher Teil der Berge waren, dann können wir durchaus selbst über Tatsachen urteilen und dagegen die Erzählungen aus dem ‚Palast der Illusionen‘ abwägen. Zweifellos: Es gibt hier keine letzte Gewissheit. Die buddhistische Einsicht, dass es keine unumstößlichen, sondern immer nur interpretierte Tatsachen gibt, dass insofern auch alle Fakten bedingt sind, bleibt davon unberührt. Dennoch können wir mit etwas eigener Recherche und Geduld Wahrheit, Halbwahrheit und Lüge unterscheiden und sollten uns nicht durch PR und Medien ins Bockshorn jagen lassen. Auch Illusionen sind nur relativ illusionär, deshalb vergänglich und durchschaubar.

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Illustrationen © Francesco Ciccolella
Header © Armand Khoury / Unsplash

 

Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Prof. em. Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH Würzburg und der Hochschule für Politik, München. Er ist Dharma-Praktizierender seit über 40 Jahren, beeinflusst vor allem durch Theorie und Praxis des Mādhyamaka-Systems. Zahlreiche Publikationen,...
Kommentare  
# Gottfried Helms 2021-06-04 09:26
Die Referenz auf die Einsichten des Buddha in Bezug auf die "Illusion", oder genauer: die "Konstruktion der Wirklichkeit" als Funktion unseres Denkapparates ist immer wieder wertvoll, wie ich finde.
Wie ich aber Ihren Artikel lese, der darauf hinausläuft, daß bei genügend, vernünftigem, Aufwand ("mit Recherche und Geduld...") eine brauchbare Erkenntnis herauskommt, fällt mir ein anderer Aspekt ein, den ich in diesem Zusammenhang zunehmend vermisse: nämlich den der "Ökonomie" ;-) - ja: des schieren *Aufwandes* für das Errichten bzw Bewahren eines konsistenten Alltags-bewußtseins. Unsere Kapazitäten in dieser Hinsicht sind natürlich (wie alles) begrenzt, und es ist eine weitere *Illusion* daß unsere Anstrengungen der Recherche den Nebel der Memes und Denkfiguren noch durchdringen könnten. Wir können nicht (und sollten es auch nicht versuchen) 24/7 analytisch mit den Veräußerungen - Fakenews oder nicht- umzugehen; manchmal habe ich gedacht, mir eine eigene kleine Datenbank anzulegen, "mit Fakten" ... aber abgesehen davon, daß wir heute mit der schieren Quantität der Produktion von Wirklichkeitsdarstellung gar nicht mehr mithalten *können*, würde ich es so auch gar nicht *wollen*. Ein kleiner Rückzugstrip in die Natur kann einen wieder dazu führen, daß es noch was anderes gibt, was unserer Aufmerksamkeit wert ist als der Krach der Kirmes um unsere politische etc. In-Besitznahme. Ich finde, wir sollten unser *Recht darauf* *einklagen*, eine vertrauensvolle/ vertrauensfähige soziale Mikrostruktur um uns herum zu haben -in der man eben nicht jede Sekunde damit zubringen muß, Wahrheitsgehalte über Recherchen (womöglich noch "im Internet") zu analysieren.
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