Die Körpertherapeutin Maria Kluge will Achtsamkeit in die Schule bringen, weil sie die Eigenwahrnehmung und die Frustrationstoleranz stärkt.
Sie sind Mindfulness-Based Stress Reduction-Trainerin und arbeiten derzeit an einem Programm für Achtsamkeit in pädagogischen Einrichtungen. Warum haben Sie sich Kindern zugewandt?
Mir ist aufgefallen, dass wir viel zu wenig auf Kinder eingehen. Sie werden mit ihrer Weisheit und ihrer Kreativität nicht miteinbezogen. In den Schulen geht es in erster Linie darum, stillzusitzen und das nachzubeten, was die LehrerInnen sagen. Den LehrerInnen wiederum geht es ausschließlich um die Erfüllung des Lehrplans. In diesen Lehrplänen ist aber der Faktor Zeit, den Kinder für die persönliche Entwicklung brauchen, nicht miteinkalkuliert. Die SchülerInnen haben keine Frustrationstoleranz mehr, die Zahl der Selbstmorde steigt.
Wie sollte Schule sein?
Ein Ort, an dem Kinder die Möglichkeit haben, sich selber zu entdecken. Und damit meine ich Gefühle genauso wie den Geist. Es sollte während eines Schultages immer auch Zeit für spielerische Kreativität geben. Ich beobachte das schon seit langem. Wenn ich am Anfang des Schuljahres in eine erste Klasse komme, sind die Kinder frisch, lebendig und kreativ. Komme ich ein halbes Jahr später wieder, ist diese Energie wie weggeblasen. Die Kinder machen, was die LehrerInnen wollen. Sie sind gehorsam, haben aber auch das Interesse und die Freude am Entdecken und am Lernen verloren.
Was, glauben Sie, ist die Ursache?
Der permanente Leistungsdruck. Schon die Eltern fordern ihre Kinder ständig dazu auf, irgendwelche Ziele zu erreichen. Auch die LehrerInnen betonen ständig, wie wichtig das ist, und meinen damit die Lehrpläne. Das Interesse am individuellen Kind und an seinen Eigen- und Besonderheiten kommt da viel zu kurz.
Wie ließe sich das ändern?
Durch die Auswahl an Fragestellungen. Ich würde mir wünschen, dass es auch andere Fragestellungen in einem Schulalltag gibt. Etwa: Wo spürst du deinen Atem? Wie spüren sich jetzt gerade deine Füße an? Oder: Was sind Gefühle, wo spürst du sie? Damit würde man die Kinder in ihrem Körper auf Entdeckungsreise schicken, ein spielerischer Zugang spielt dabei eine große Rolle. Dafür müsste Raum geschaffen werden.
Das klingt nicht einfach. Wie würde das konkret aussehen?
Ich habe dazu einen Beitrag im Buch ‚The Toolbox Is You‘ verfasst, in dem es darum geht, sich selbst besser kennenzulernen. Vieles in diesem Band ist so gestaltet, dass Geschichten und Übungen im Buch von den LeserInnen mitgestaltet werden sollen. Es geht um die eigenen Ideen, so dass ein individuelles, ein eigenes Buch entsteht. Alle Beispiele und Anleitungen dienen dazu, sich mit dem eigenen Ich und dem eigenen Körper auseinanderzusetzen.
Welche Funktion hat Achtsamkeit in diesem Zusammenhang?
Die Funktion des In-sich-hinein-Hörens. Mit Achtsamkeit lassen sich Sprache, Körperbewusstsein, Bewegung, Gefühle und Gedanken vereinen. Das ist notwendig, um mit sich selbst in Kontakt zu kommen und über die eigenen Gefühle und Gedanken reflektieren zu können. Wir wollen den Kindern die innere Ruhe, die Gelassenheit, ein gutes Selbstwertgefühl beibringen, damit sie die Kraft entwickeln, das Leben in seiner Vielfalt und Schönheit anzunehmen.
Geht es also um persönliches Wohlbefinden?
Auch. Es geht aber auch um das Erlernen eines achtsamen Sprachgebrauchs, auch das offene Denken muss geübt werden. Beides steht ja in enger Verbindung mit der eigenen Wahrnehmung, denn nur wer achtsam mit sich selber umgehen kann, kann dies auch mit anderen.
Wie könnte so eine Achtsamkeitsübung in den Unterricht eingebaut werden?
Eine Unterrichtseinheit dauert meist etwa 45 Minuten, da könnten doch zwei Minuten davon zum Beispiel für achtsames Atmen verwendet werden. Die SchülerInnen lernen, ihre Atemzüge zu zählen. Wenn dies jeden Tag wiederholt wird, lassen sich mit der Zeit Vergleiche anstellen. Einmal atmet man schneller, einmal langsamer, einmal schafft man mehr, einmal weniger Atemzüge. Das sind Werkzeuge der Selbstwahrnehmung. Idealerweise nehmen die Kinder diese Übungen mit nach Hause und bringen sie ihren Eltern bei.
Es ist also ein pädagogisches Konzept für Kinder und Erwachsene?
Spielerische Kreativität und Selbstwert tun auch Erwachsenen gut. Es ist für Erwachsene genauso wichtig, kurz innezuhalten und festzustellen, wie es einem gerade geht und was um einen herum alles geschieht. Vor allem LehrerInnen profitieren, wenn sie sich ihrer Gedanken und Emotionen bewusst sind, denn daraus ergibt sich langfristig Gelassenheit. In manchen pädagogischen Ausbildungen gibt es deshalb ja auch schon ein Achtsamkeitstraining.
Warum gerade bei LehrerInnen?
Ich habe bemerkt, dass LehrerInnen eine große Unzufriedenheit haben, wie der Unterricht verläuft. Wenn es zu still in der Klasse ist, beschweren sie sich, dass die Kinder sich mehr engagieren sollen. Sind sie hingegen engagiert und voller Energie, dann sollten sie still sein. Es ist eben nie richtig, wie es gerade ist.
Was meinen Sie damit?
Wir werden ständig stimuliert und wissen gar nicht, wie manipuliert wir sind. Wir erhalten ständig neue Informationen von außen und nehmen im Innen jeden Gedanken als Wahrheit. Doch man muss sich stets bewusstmachen: Es sind nur Gedanken! Unser Leben geht von Atemzug zu Atemzug, von Augenblick zu Augenblick und ändert sich von Moment zu Moment. Diese Unbeständigkeit mögen wir überhaupt nicht mehr. Für Spontaneität ist kein Platz, es ist alles geplant. Und wenn wir das nicht wieder integrieren, werden wir von irgendwelchen Gedanken gesteuert.
Hat das mit der Technisierung des Alltags zu tun?
Schon heute sind die meisten technisch gut ausgerüstet und die Anwendungen betreffen immer mehr Lebensbereiche. Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen wollen. Die Technisierung lässt die Zeit immer schneller vergehen. Es gibt Menschen, die nicht mehr mithalten können. Viele sind komplett überfordert. Burnout und Depression sind die Folgen.
Was macht Ihnen noch Sorgen?
Die Ansprüche, die jeder an sich hat, werden immer größer. Wir müssen nicht nur toll aussehen, wir wollen auch so viel wie möglich erreichen, wir arbeiten viel, wir wollen Vorzeigefamilie sein und einen großen Freundeskreis haben. Alles sollte immer perfekt sein. Die Schattenseite: Niemand hört mehr auf sich selber. Nicht nur Kinder kennen ihre Bedürfnisse nicht mehr und verlieren ihren Selbstwert, es geht Erwachsenen genauso. Durch den ständigen Drang nach Perfektion haben wir den Bezug zu uns selbst verloren. Wir sind uns selbst nicht mehr gut genug.
Was sollte man lernen?
Unangenehmes auszuhalten. Das schaffen zunehmend immer weniger Menschen. Das ist zumindest meine Beobachtung. Ist etwas unangenehm, muss es sofort durch etwas Angenehmes kompensiert werden. Doch beides sind nur Interpretationen unserer Gedanken.
Wie wäre es besser?
Anzuerkennen, dass es jetzt gerade in dem Moment unangenehm ist und ich daran aber nichts verändern muss. Es wäre besser, die Emotion oder das Gefühl genauer zu betrachten, alles erst mal mit Liebe und Geduld wahrzunehmen und nicht einfach sofort zu reagieren.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 106: „Handbuch Achtsamkeit"
Klingt anstrengend …
Wir denken, dass wir in einer ständigen Dualität existieren, aber das Leben kennt keine Dualität. Es ist nicht gut oder schlecht. Es ist nicht richtig oder falsch.
Was schlagen Sie vor?
Achtsamkeit ist hilfreich, ich nenne sie auch oft Herzsamkeit. Die Achtsamkeit kann als tägliche Hygiene für den Geist gesehen werden, eine wahrnehmende Hygiene. Wir sollten versuchen, aus der Dualität des Denkens auszusteigen, sollten nicht ständig urteilen, bewerten, ob etwas positiv oder negativ ist. Wir sollten überhaupt aufhören, in solchen Kategorien zu denken, weil sie unzufrieden machen. Wenn Unzufriedenheit ein Dauerzustand ist, dann ist nichts, wie es sein sollte. Vielmehr sollte man im Moment leben.
Teaser / Bild im Beitrag © Maria Kluge privat