Gott hat den Menschen nach Auffassung der Bibel aufgetragen, sich die Erde untertan zu machen. Sind übertriebener Leistungsdruck und Burn-out vielleicht die Folgen einer falsch verstandenen Interpretation dieser großen Aufgabe, vor die sich Bibelgläubige und ihre weltlich gesinnten Fortschrittsfreunde gestellt sehen?
Vielleicht geht es nicht darum, die Erde und unsere Mitgeschöpfe zu beherrschen und auszubeuten, sondern darum, freundlich und respektvoll miteinander zu leben, aus Einsicht in die unendlich komplexe Verbundenheit von allen und allem. Und dabei sind meditative Übungen sinnvoll, die uns dabei unterstützen, sorgsam mit uns selbst und der Welt umzugehen. Doch was braucht man dafür? – Erstens Muße, zweitens Muße und drittens noch einmal Muße, und zwar im Sinne eines Freiraums zum Selberdenken und zum Überschreiten des Denkens. Beide Fähigkeiten sind Voraussetzungen, um Erschöpfung und Leistungswahn zu erkennen und abzubauen. In der Schöpfungsgeschichte steht geschrieben, dass Gott zuerst die Welt nach seinen Vorstellungen schuf und danach die Menschen als Mann und Frau aus Lehm formte, wie ein guter Handwerker. Und er trug ihnen auf, diese schöne neue Welt zu genießen und zu beherrschen. Und am siebten Tag ruhte sich Gott aus und betrachtete sein Werk mit Wohlgefallen. Vielleicht sollten wir Gott nicht nur dadurch nachahmen, dass wir die Welt nach unseren Bedürfnissen und Vorstellungen von Kontrolle und Machbarkeit manipulieren und verändern. Sondern ab und zu innehalten und unser Werk betrachten und überlegen, ob das, was wir getan haben, auch gut ist, für uns und für die Welt.
Menschen brauchen beides, sowohl Tätigsein als auch Ausruhen und Muße. Die Alten sprachen von der ‚vita activa’ und der ‚vita contemplativa’. Für beides steht in der westlichen Kultur der monotheistische Schöpfergott: Er schuf zuerst und dann ruhte er sich aus. Allerdings gab es in der Antike und bis zum Mittelalter eine klare Arbeitsteilung zwischen den aktiv tätigen und den kontemplativ lebenden Menschen. Die aktiven Menschen gestalteten – hier in der Interpretation von Hannah Arendt – als animal laborans, als arbeitendes Tier, als homo faber, Handwerker und Macher, und als Personen mit politischer Verantwortung das gemeinsame Leben. Zu den kontemplativen Menschen gehören nach dem antiken Modell die Philosophen und die Religiosen, die religiös lebenden Menschen. Die Aufgabe der Philosophen war und ist es, über das Leben in der gemeinsamen Welt, deren Teil sie ja auch sind, gründlich und selbstständig nachzudenken, und zwar immer und immer wieder, und so auch die Grenzen des Denkens zu entdecken. Ihre Aufgabe ist es nicht, unsere schöne Welt durch Kategorien und Systeme zu verbergen und das Gedächtnis mit Definitionen zu überladen. Die Aufgabe der religiös praktizierenden Menschen – nicht der Kirchenfunktionäre, denn Verwalten gehört zum aktiven Leben – besteht darin, sich der Grenzen des Denkens immer wieder bewusst zu werden und dann das Denken zu überschreiten. So entdeckt man – nach buddhistischer Auffassung und auch nach Johannes vom Kreuz – ein tiefes Vertrauen, das die Menschen auch dann trägt, wenn es gerade keine angenehmen Gefühle gibt und die klugen Theorien sich als Papiertiger erweisen. Die Aufgabe religiöser Profis, von Theologen und Ordensangehörigen, besteht nicht darin, komplizierte Theorien über das Unfassbare aufzustellen und sich unter anderem zu überlegen, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben und ob der liebe Gott weiß, was unartige Kinder alles anstellen und wie das Schicksal jedes Einzelnen vor hundert Leben war und später sein wird. Wir haben vermutlich auch deshalb Probleme mit uns und der Welt, weil wir einfach zu gerne wie Gott sein wollen, der alle Haare auf dem Kopf seiner Geschöpfe und alle Sterne am Himmel zählen kann. Zumindest sieht so der Gott aus, den sich die Menschen in ihrer Vorstellung geschaffen haben und den die Wissenschaftler nachzuahmen scheinen, wenn sie das Genom entschlüsseln und die subatomaren Quanten messen wollen.
Menschen brauchen beides, Phasen der Aktivität und der Ruhe. Heute gibt es die alte Arbeitsteilung zwischen aktiv tätigen und kontemplativ lebenden Menschen nicht mehr, sondern jeder Mensch kann potenziell und sollte auch faktisch beide Haltungen in der für ihn oder sie stimmigen Balance leben. Leider gilt das kontemplative Leben seit der protestantischen Reformation als parasitär. Bis dahin galt es als höher und wertvoller. Mit der neuen Wertschätzung der Handarbeit wurden in den letzten fünfhundert Jahren zwar die aktiv tätigen Menschen aufgewertet, allerdings unter weitgehendem Verzicht auf das kontemplative Leben. Es gibt heute nicht einmal eine schöne Vision der Muße, denn ihr Sinn wurde vergessen und übrig blieb nur das Schimpfwort vom Müßiggang als aller Laster Anfang. Zweck- und zielorientiertes Arbeiten mit Hand und Kopf wurde aufgewertet, das zweckfreie Betrachten der Früchte der Arbeit, das Hinterfragen des aktiven Modus und das einfache Dasein wurden abgewertet. Frühe Zeichen dieser neuen Haltung waren die Neuordnung der sieben Todsünden durch Papst Gregor den Großen im 7. Jahrhundert, der die Todsünde der Traurigkeit durch die Todsünde der Faulheit ersetzte, und die Erfindung der Uhr durch die Benediktinermönche. Zeit ist Geld, denken wir heute, und wer so denkt, kann nicht mehr guten Gewissens innehalten.
Selbst Spiel und Zerstreuung zur Erholung gelten als fragwürdig. Das Morgen- und Abendgebet der Leistungswilligen scheint so zu lauten: Mögen wir uns immer schneller und effektiver erholen, damit wir immer mehr und besser arbeiten können, koste es, was es wolle. Man redet heutzutage von der Work-Life-Balance und das klingt so, als ob Arbeit und Leben Gegensätze seien. Arbeit ist ein sinnvoller und notwendiger Teil des Lebens, aber Arbeit ist nicht das ganze Leben. Wenn sehr viel gearbeitet und dann auch noch die Freizeit und die Familienzeit mit der Stoppuhr durchgeplant wird, fehlt die innere Distanz, um das Leben zu beobachten und die Prioritäten zu überprüfen. Nach Hannah Arendt braucht der Mensch nicht nur Entspannung, sondern auch Muße, eine Zeit frei von äußeren und inneren Zwängen. Denn erst das macht eine kontemplative Haltung zum Leben möglich. Muße bedeutet daher nicht primär, sich nach viel Arbeit auszuruhen, und auch nicht, abzuhängen, faul zu sein oder zu chillen. Man braucht nach der Arbeit freie Zeit zum Entspannen und Auftanken, aber das gehört genauso wie die Fahrzeit zur Arbeitszeit dazu und ist damit Teil des aktiven Lebens, ebenso wie schlafen und essen.
Muße, eine Zeit ohne äußere und innere Zwänge, beginnt, wenn wir ausgeschlafen und ausgeruht sind und weder Termine haben, noch unter dem inneren Druck stehen, unbedingt dieses oder jenes tun zu müssen. Dann können wir über unser Leben nachdenken und überprüfen, ob das, was wir den ganzen Tag tun, sagen und denken, sinnvoll und heilsam für uns und für die ganze Welt ist. Wir brauchen auch dringend Muße, damit wir die Grenzen des Denkens und Verstehens ausloten können. Denn genau diese Einsicht fehlt sowohl den aktiven Leistungsmenschen als auch den religiösen Profis, die sich mit komplizierten Meditationstechniken, mit religiösen Regeln und Vorschriften oder komplizierten Theorien und theologischen Modellen abquälen. Nur in Mußestunden können wir die Grenzen des Denkens erkennen und überschreiten, bescheiden und umsichtig werden und begreifen, dass wir nicht alles richten können. Wenn wir innehalten und genauer hinschauen und hinspüren, entdecken wir vielleicht wieder, wie sehr wir mit allen und allem verbunden sind. Wir stellen fest, dass das Leben auch dann weitergeht, wenn wir nicht alles begreifen. Wenn uns das klarer wird, fangen wir an zu staunen, und auch das gehört zu einem guten und sinnvollen Leben. Es genügt nicht, uns nur um unser materielles Leben und unseren Alltag zu kümmern. Als Teil des Ganzen tragen wir Verantwortung für uns und die gemeinsame Welt, für die ganze Schöpfung. Und auch dazu brauchen wir Muße, Zeiten, in denen wir innehalten und über uns und unsere Beziehungen und über die Welt nachdenken. Buddhistische Methoden können uns dabei unterstützen.
Ein Wort der Vorsicht: Zum Meditieren und Selberdenken müssen wir alleine oder in Stille sein, so dass wir unsere Gedanken und Gefühle bemerken. Wenn wir aber das, was wir im stillen Sitzen und Selberdenken herausfinden, nicht mit Menschen, die das auch tun, austauschen, verlieren wir mit der Zeit die Fähigkeit, selber zu denken, denn wir kreisen dann nur noch in der eigenen Gedankenwelt, die von unseren früheren Erfahrungen bestimmt wird. Wir müssen ‚Besuche im Denken anderer machen’ (Kant), denn nur so erweitern wir unseren Horizont und lernen, zweistufig zu denken, das heißt, mehr als eine Perspektive zu erkennen und auszuhalten. Der tibetische Lehrer Lama Thubten Yeshe drückte es Ende der 1970er Jahre so aus: Weisheit beginnt, wenn wir ein Problem aus mehr als einer Perspektive betrachten können. Genau diese Fähigkeit, unser Leben und die Welt aus mehr als einer Perspektive zu betrachten, brauchen wir, wenn wir die Schöpfung bewahren und uns von Überforderung und Leistungswahn befreien wollen. Jetzt gibt es bei allem guten Willen ein Problem. Wenn wir müde oder unruhig sind, wenn wir unter Druck stehen oder Angst haben, fallen wir auf alte und älteste Muster zurück. Wir können uns in einer aufgewühlten oder unruhigen Verfassung noch so sehr bemühen, umsichtig, freundlich und klar zu sein, es wird uns kaum gelingen. Buddhistische Methoden können uns dabei unterstützen, den Körper, die Gefühle und das Denken zu beruhigen. Traditionell heißt es, ein Leben mit ethischen Regeln beruhigt den Körper und unsere Emotionen. Die Vision des bedingten Entstehens und die Hinweise auf die nur relative Gültigkeit aller Vorstellungen können unseren Verstand soweit beruhigen, dass wir den übertriebenen Anspruch aufgeben, alles in den Griff bekommen zu müssen. Und in einer relativ ruhigen Verfassung können wir unser Verhalten mit Körper, Rede und Geist beobachten und die Folgen unseres Verhaltens auf uns selbst und andere und auf die ganze gemeinsame Welt besser abschätzen und nach bestem Wissen und Gewissen mehr und mehr zum Wohle von uns und anderen handeln.
Kleine Übungen mit großer Wirkung:
- Halten Sie jeden Tag einmal inne und spüren Sie für fünf, zehn Minuten den natürlichen Atemrhythmus im Sitzen oder Gehen.
- Spüren Sie im Sitzen den Atem mit ‚Ja zum Leben – Danke fürs Leben’ im Rhythmus des Atems.
- Schauen Sie zwei-, dreimal am Tag fünf Minuten aus dem Fenster oder gehen Sie ins Freie und schauen Sie in den Himmel.
- Nehmen Sie sich einmal die Woche zehn Minuten Zeit und überlegen Sie, welche drei, vier Dinge Sie unbedingt tun wollen, und dann tun Sie das auch.
- Überlegen Sie einmal die Woche, welche drei, vier Dinge Sie weder tun wollen noch müssen, und tun Sie das ab sofort nicht mehr.