Warum ist das Herz oft unvernünftig? Oder wie Saint-Exupéry sagte: „Erinnere mich daran, dass das Herz oft gegen den Verstand streikt.“
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Schon der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal schrieb: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ Die Ambivalenz zwischen Herz und Verstand stellt eine der größten Herausforderungen für den Menschen dar. Wir alle kennen das Problem: Wir wissen um das eine, tun aber das andere. Wie oft handeln wir ohne Sinn und Verstand oder handeln ohne Gefühl? Der Mensch sitzt zwischen zwei Stühlen: Kopf oder Herz, Geist oder Materie, oben oder unten, Individualität oder Gemeinschaft usw. usf.?
Unser Leben scheint eine Verkettung von Gegensätzen und Widersprüchen zu sein. Doch das eine braucht und bedingt das andere. Denn wäre das eine nicht, wäre auch das andere nicht. Paradoxerweise können wir die Vielfalt nur aufgrund des EINEN verstehen. Nur vom großen Ganzen her ergibt alles Sinn. Zwar ist das Einzelne für sich erkennbar, aber der Grund seines Seins erschließt sich nur im Gesamtzusammenhang. Also nur, indem wir die Dinge gemeinsam und nicht getrennt voneinander betrachten, erkennen wir ihren wahren Wert. Dieses Prinzip gilt auch für das Herz und für die Vernunft.
Bedeutet das – da das eine auf das andere verweist –, dass scheinbar gegensätzliche Pole gar nicht gegensätzlich sind, sondern die jeweilige Ergänzung und Erweiterung des anderen darstellen? Sind Herz und Vernunft vielleicht nicht so verschieden, wie wir glauben?
Erlauben wir uns die Frage: Was ist das Herz ohne Vernunft und die Vernunft ohne Herz? Bar jeder Vernunft ist das Herz reine Sentimentalität oder schlimmer noch Irrationalität, und herzlose Vernunft ist nichts als kalter, nackter Verstand. Wir dürfen Vernunft und Verstand nicht gleichsetzen. Für die Vernunft ist das Herz unabdingbar. Hingegen funktioniert der Verstand auch ohne Herz.
Die meisten Menschen halten sich für vernünftig und für Herzmenschen.
Aber warum ist dann unsere Welt so problematisch? Woher kommen all diese Missstände, die wir haben? Zu denken, dass wir mehr wissen als andere, zu glauben, wir seien besser als andere, kurz – die anderen sind daran schuld, ist keine Herzenserkenntnis, sondern Kopfsache. Wir sind weniger vernünftig, als wir denken. Neid, Gier, Hass, Rechthaberei, Intoleranz, Schuldzuweisungen, Unversöhnlichkeit, Ablehnung, Gewalt, Krieg etc. sind alles andere als vernünftig. Wir mögen Verstand besitzen (wir wissen so viel), aber das Wesentliche sehen und leben wir nicht – unser Herz. Denn hätten wir mehr Herz, dann wären wir Menschen um einiges besser. Die Welt ist nicht schlecht, wir sind es. Solange wir diese Tatsache leugnen, regieren nicht Vernunft und Herz, sondern Kalkül und Verstand.
Obwohl der moderne Mensch sich seines Verstands bedient, macht er einen Denkfehler: Herz und Vernunft sind keine Widersacher. Sie arbeiten nicht gegeneinander, vielmehr wirken sie wechselseitig. Dort, wo Vernunft ist, ist auch Herz, und wo Herz ist, ist auch Vernunft. Durch die Trennung von Vernunft und Herz wurde aus der Vernunft „reines rationales Denken ohne Gefühle und aus der Liebe wurde irrationale Sentimentalität. Das Ergebnis ist eine Automatenwelt, in der der Mensch funktionieren muss. Für unordentliche Gefühle gibt es hier keinen Platz, und wenn er noch fühlt, dann nur noch in dem Maße, wie sein Lifestyle und das bestehende Gesellschaftssystem es zulassen. Erich Fromm griff dieses zunehmende Problem zu seiner Zeit schon auf und beschrieb die kritische Sachlage wie folgt:“[1]
„[S]o ist es doch zu einem Ideal geworden, emotionsfrei zu denken und zu leben. Emotional sein ist gleichbedeutend geworden mit unausgeglichen und gar geisteskrank. Wer diesen Maßstab akzeptiert, wird hierdurch stark geschwächt; sein Denken verarmt und verflacht. Da aber andererseits die Gefühle nicht ganz auszurotten sind, müssen sie völlig getrennt von der intellektuellen Seite der Persönlichkeit existieren. Das Resultat ist jene billige und unaufrichtige Sentimentalität, womit Filme und Schlager Millionen abspeisen, die nach Gefühlen hungern.“[2]
Die heutige Gesellschaft ist sentimental und leidend, aber kaum vernünftig. Nur weil das Leid allgemein zunimmt, sind wir nicht sensibler als früher. Auch sind wir im Vergleich zu den vorangegangenen Generationen geistig nicht weiter, nur weil wir im Umgang miteinander gelassen wirken. So wie Empfindlichkeit nicht Sensibilität ist, bedeutet Abgestumpftheit nicht Toleranz, geschweige denn inneren Frieden.
„Denken und Fühlen müssen als harmonische Einheit wieder miteinander interagieren. Befinden sich diese zwei Pole im Ungleichgewicht, verlieren beide an Kraft. Werden Gefühle zugunsten des Denkens vernachlässigt, so hat das nicht nur schwerwiegende Folgen für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaft. Eine gefühllose Automatenwelt ist der Tod jeder Ethik und somit auch der Tod jeder Gesellschaft.“[3]
Der Einzelne, wie auch die Gesellschaft als Ganzes, ist zu mehr Mut zur Liebe und zur Hinwendung zu wahren Gefühlen aufgerufen. Das Gesellschaftssystem sollte sich in dieser Hinsicht wandeln, sodass aus Bürgern Weltbürger werden. Der Weltbürger ist der neue und offene Mensch, der gleichermaßen mit Vernunft und Liebe ausgestattet ist.
Es ist notwendig, dass wir erkennen, dass die Liebe das Vernünftigste ist, was der Mensch hat – denn Liebe ist Vernunft. Die Frage nach der Vernunft stellt sich erst vor dem Hintergrund der Liebe. Ohne sie ist jegliche Vernunft bloß begrenzter Verstand. Viele Menschen sind mit einem gut funktionierenden Verstand gesegnet, und einige besitzen einen großen Intellekt, aber nur wenige ein vernünftiges, liebendes Herz. Nicht unser Verstand wird uns Menschen retten, sondern unser Herz.
[1] Moonhee Fischer, Wir erleben mehr, als wir begreifen. Studien zur Bedeutung und Interpretation des mystischen Weges der Leere und Fülle in fünf religiösen Traditionen 2020, 292/293.
[2] Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, München 2014, 177.
[3] Moonhee Fischer, Wir erleben mehr, als wir begreifen. Studien zur Bedeutung und Interpretation des mystischen Weges der Leere und Fülle in fünf religiösen Traditionen 2020, 293.
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