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Wie zeigt sich die Vorstellung, dass alles ein Teil eines größeren Ganzen ist, in den vielfältigen religiösen Traditionen, und welche Bedeutung hat sie für das individuelle spirituelle Verständnis?

MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“  findet ihr mehr Informationen dazu.

Antwort MoonHee:

Weil es dieses gibt, gibt es auch das jenes. Der Buddhismus spricht vom Abhängigen Entstehen: Wäre das eine nicht, so wäre auch das andere nicht. Die absolute Wahrheit liegt nicht „hier oder dort“, nicht „oben oder unten“, nicht in der „Einheit oder in der Vielheit“, nicht im „Heiligen oder Weltlichen“, nicht im „Universellen oder Individuellen“, sondern im Zusammenspiel beider Pole. Nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch oder wie Hegel pointiert sagt: „Das Wahre ist das Ganze.“

Das Ganze ist das Ganze, weil es alles umfasst und nichts ausschließt. Damit ist es reine Prozessualität. Oder anders gesagt: Das alles umfassende Eine ist dynamische Offenheit schlechthin. Das ist der Grund, warum es sich unserem Denken entzieht. Denn das Allumfassende kann nicht begrenzt werden. Unser Denken mag grenzenlos erscheinen, aber dort, wo Gegensätze und Widersprüche sind, stoßen wir immer an Grenzen. Und wo Grenzen sind, ist Trennung und nicht Einheit. Das heißt aber nicht, dass dieses nicht begriffliche Eine, das Eine ohne ein Zweites, im Hinduismus als Advaita bekannt, nicht erlebbar wäre. Denn nicht greifbar bedeutet nicht, nicht erfahrbar.

ReligionenWir erleben und fühlen täglich so viel mehr, als wir denken können. Und doch glauben wir hauptsächlich an Dinge, die wir sehen und begreifen können. Wir ziehen die Empirie dem Glauben vor. Der wissenschaftshörige Mensch pocht auf Beweise, aber auch der religiöse oder gläubige Mensch will Gewissheit. Beide beanspruchen eine bestimmte Wahrheit für sich, und wenn es darauf ankommt, wird sie bis aufs Blut verteidigt. Etwas für sich zu beanspruchen, liegt in der Natur des Menschen – weil er der Illusion unterliegt, ein in sich abgeschlossenes Individuum zu sein, das von anderen Wesen getrennt sei. Diese Grenzziehung von ich und du, von mir und anderen führt zu einer Welt, die in Teile zerfällt. Der Mensch nimmt sich nicht mehr als ein Ganzes bzw. einer absoluten Einheit zugehörig wahr, sondern als eine Vielheit unter Vielheiten. So betreibt er auch Religion. Heute verstehen wir unter Religion, einer bestimmten Institution und Ideologie anzuhängen, deren Gesetze und Rituale eingehalten werden müssen.

Was wollen Religionen?

Doch Religion will Einheit und nicht Trennung. Denn der Kern jeder Religion ist das Absolute. Ob dieses absolute Eine transzendente Natur ist oder nicht, ist einerlei. Schon die Ausdifferenzierung Eines ODER Nicht-Eines ist Trennung. Das Gleiche gilt für weltlich ODER heilig. Das absolute Eine ist in der Vielheit, so wie das Unendliche in allem Endlichen enthalten ist, wie umgekehrt. Unendliches oder Endliches, wie Einheit und Vielheit verweisen aufeinander. Wäre nämlich das Eine nicht, so wäre auch das Andere nicht. Nur in ihrem Zusammenspiel ergeben sie ein Ganzes. Religion, will sie wahrhaftig Religion sein, ist eine dem Menschen innewohnende Kraft und hängt nicht an Traditionen, Namen oder Begriffen. Der Mensch als Geistwesen ist religiös gestimmt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Schon allein, dass wir über Religion, Geist, Transzendenz oder das Absolute nachdenken können, besagt, dass wir mehr als individuelle Entitäten sind. Wir sind immer auch das Ganze, da das universelle Eine unsere Wesensnatur ist.

Das Individuelle hat kein eigenständiges Sein, vielmehr ist es vielfältiger Ausdruck des absoluten Einen. Auch die verschiedenen Religionen sind nur Emanationen oder Spielarten des allumfassenden einen Ganzen. Ganz gleich aus wie vielen unendlichen Teilen, ob groß oder klein, dieses Eine besteht, sind alle Teile doch immer das Eine selbst. Zum Beispiel sind die Stücke eines Kuchens oder die daraus herausgestochenen Formen oder auch die Krümel davon immer derselbe Kuchen. Die Substanz, egal welche Form oder Größe, bleibt immer gleich. Auch wenn wir diese Vielfalt in ihren unterschiedlichen Formen genießen und auch genießen sollen, dürfen wir ihre Ursache nicht vergessen. Ursprung und Grund aller Vielheit, allen Seins und somit auch aller Religionen ist das Eine ohne ein Zweites (Adavaita). Wir müssen verstehen, dass das Zweite auch das Eine ist.

„Im Einheitsbewusstsein wird die Verschiedenheit nicht nivelliert, sondern erhält durch die Wandlung der Liebe gerade ihre Einmaligkeit zurück. Der Ursprung allen Seins ist Einer; insofern alles ist, ist es eines – ist es eines, so ist es alles. Der Mystik geht es um die unmittelbare Erfahrung des Einen bzw. der Einheit, die sich jedoch vielfältig ausdrückt. Die Vielheit der Einheit erlaubt nicht nur einen Heils- oder Erlösungsweg, vielmehr ist die Vielfalt der Wege der eine Weg selbst.“[1] Das heißt: Alle Religionen sind eine Religion, alle Menschen ein Mensch. Wenn wir Kraft unseres Herzens das zulassen können – das nicht begriffliche Eine kann nicht gedacht, nur erfahren werden –, dann können wir ganz wir selbst sein und zugleich der Andere. Dann sind wir Christ, Buddhist, Hindu, Jude, Moslem und alle anderen Religionen zugleich, auch wenn wir in unserer eigenen Tradition verbleiben und sie praktizieren. Denn es alles kommt aus dem Einen und alles kehrt zum Einen zurück.

 

[1] Moonhee Fischer Wir erleben mehr als wir begreifen.  Studien zur Bedeutung und Interpretationen des mystischen Weges der Leere und Fülle in fünf religiösen Traditionen 2021, Seite 21.

 

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Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel 

Dr. phil. MoonHee Fischer

Dr. phil. MoonHee Fischer

„Was eines ist, ist eines. Was nicht eines ist, ist ebenfalls eines.“ (Zhuangzi) Jenseits eines dualistischen Denkens, im Nichtgeist, gibt es weder das Eine noch ein Anderes. Wo das Eine sich von einem Zweiten abgrenzt, ist keine Einheit, sondern Zweiheit. Die Erfah-rung des Einen – ich bin al...
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