Wie geht man (ich) mit dem Erbe um, wenn der Vater ein NS-Täter war? Ist es überhaupt ein Erbe?
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Das, was geschehen ist, können wir nicht mehr ändern. Doch wir können die Richtung wählen, in die wir schauen und gehen wollen. Ein Erbe kann angenommen, aber auch abgelehnt werden. Manchmal ist es ratsam, das Erbe nicht anzutreten, und in manchen Fällen wäre es durchaus besser, gar nichts davon zu wissen. Auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen: Wissen macht nicht unbedingt glücklich. So lesen wir in der Bibel: „Selig sind die geistlich Armen, denn ihrer ist das Himmelreich.“
Auf unserer materialistisch-dualen Ebene ist Wissen Macht, doch aus einer metaphysischen Sicht ist das meiste Wissen nichts als Anhaftung und für den inneren Frieden hinderlich. Denn je mehr äußerliches Wissen wir ansammeln, desto begrenzter und gebundener sind wir. Wenn wir uns also von einer belastenden Vergangenheit befreien wollen, so müssen wir entbinden. Das heißt: Wir müssen loslassen. Nicht die Vergangenheit hält an uns fest, sondern wir an ihr. Mark Twain schrieb: „Vergangenheit ist, wenn es nicht mehr weh tut.“ Solange wir an Vergangenem hängen, uns darüber sorgen, es vielleicht sogar als Ausrede benutzen, um dieses zu tun oder jenes nicht zu tun, dann ist es nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart.
Warum tun wir das? Warum halten wir an vergangenen, schlechten Dingen fest – wollen wir nicht glücklich sein? Oft tun wir das, um Recht zu sprechen oder um unsere eigenen Unzulänglichkeiten im gegenwärtigen Leben zu kaschieren. Aber wir sind niemandes Richter. Mögen Gräueltaten noch so unverständlich sein, wir dürfen dabei nicht verweilen. Wir müssen weitergehen. Wir dürfen ihnen keine Macht geben, unser Leben zu besetzen und das unserer Kinder und Kindeskinder. Aber genau das passiert auf der ganzen Welt immer und immer wieder. Wir fühlen uns innovativ, modern, offen, mit der Zeit gehend, doch wir hängen in der Vergangenheit fest. Religionskriege, Rassismus, ungesunder Nationalismus und Patriotismus, Klassenkämpfe, Statusdenken, Diskriminierung der Geschlechter und der sexuellen Gesinnung sind gesellschaftliche Auswirkungen davon. Hinzu kommen noch die individuellen schlechten Erfahrungen, die wir vielleicht in der Vergangenheit erlebt haben. Wir alle sind mehr von Vergangenem geprägt und in Vorurteilen gefangen, als es uns bewusst ist. Die Welt ist nicht einfach so, wie sie ist, sie ist das, was wir aus ihr machen.
Wollen wir Frieden, äußerlichen und innerlichen, dann müssen wir ins Jetzt kommen. Dann ist Stille bzw. Armut des Geistes.
Sein Lehrer wird eifersüchtig auf seine spirituelle Kraft und redet ihm ein, er müsste tausend kleine Finger von rechten Händen darbringen, um seine Übung abzuschließen. Hier gibt es kein Gestern, keine Gegenwart, kein Morgen, keine Bewertung, kein Wollen und keine Ablehnung – nur reines Sein. Nur so ist wahrer Frieden möglich. Frieden bedeutet Eintracht und die setzt die Auflösung von Zweiheit voraus. Das Zaubermittel, nach dem wir suchen, ist die Versöhnung. Das Schöne an der Versöhnung ist, sie bedarf keiner Rechtsprechung. Gut oder schlecht, klein oder groß, intelligent oder nicht intelligent, arm oder reich, wir alle können uns versöhnen und loslassen, wenn wir es nur wollen. Versöhnung ist an keine äußerlichen Bedingungen geknüpft, sie ist eine Fähigkeit des Herzens, die sich in Großmut zeigt. Hier vereinen sich Großzügigkeit und Mut. Die Großzügigkeit gegenüber anderer Menschen Fehler und der Mut, aufzugeben und ganz neu zu beginnen. Indem ich zur Versöhnung bereit bin, befreie ich mich aus der Rolle des Opfers und des Täters. Der Klügere gibt nach. Indem ich kapituliere, entziehe ich dem Kämpfen jegliche Macht. Spirituell ausgedrückt: Ich verbeuge mich vor allen und jedem – ich nehme die Dinge so an, wie sie sind. Ich halte inne und gehe zugleich weiter.
Jeff Shore, Zenlehrer und Professor an der buddhistischen Universität Kyoto, erzählt in seinem Buch Der Weg beginnt unter deinen Füßen die Geschichte von einem Mann namens Anguli-mala, der auf seinem spirituellen Weg in die Irre geht. Sein Lehrer wird eifersüchtig auf seine spirituelle Kraft und redet ihm ein, er müsste eintausend kleine Finger von rechten Händen darbringen, um seine Übung abzuschließen. Um das zu erreichen, schreckt Angulimala vor Mord nicht zurück, schneidet seinen Opfern den betreffenden kleinen Finger ab und macht sich eine Halskette daraus. So kommt er zu dem Namen „Anguli-mala“, wörtlich „Kette aus Fingern“. Schließlich hat er neunhundertneunzig Menschen getötet und ihnen den kleinen Finger abgeschnitten. Da begegnet er Buddha Gautama, dem vollkommenen Erwachten, der gerade seinen Almosengang macht. Was für ein toller letzter Finger, denkt Angulimala.
Stark und flink, wie er ist, läuft Angulimala hinter dem Buddha her. Der aber geht einfach weiter. Wie schnell Angulimala auch rennt, er kann ihn nicht einholen. Schließlich bleibt er frustriert stehen und brüllt: „Halt, du Asket, bleib stehen!“ Der Buddha geht weiter, wendet sich jedoch zu ihm und antwortet: „Ich bin schon stehen geblieben. Bleib du jetzt ebenfalls stehen.“
Angulimala weiß, dass der Buddha jemand ist, der die Wahrheit sagt. Daher fragt er: „Ich bin bereits stehen geblieben, und doch sagst du mir, ich soll anhalten. Du gehst weiter, und trotzdem sagst du, du wärst schon stehen geblieben. Was bedeutet das?“ Der Buddha erwidert: „Ich habe wahrhaft angehalten. Dem Leiden, das auf viele Arten entsteht, habe ich ein Ende gesetzt. Ich habe aufgehört, anderen Wesen Gewalt anzutun. Du, Angulimala, hast das nicht getan.“ Daraufhin erkennt Angulimala den Abweg, auf den er geraten ist. Er wandelt sich von Grund auf und schließt sich den Schülern des Buddhas an. (Jeff Shore 2018, Seite 97/98)
Um Frieden zu schließen, braucht es nichts anderes als die Bereitschaft dazu. Die Versöhnung geht mit Einsicht einher: Nicht nur die anderen sind die Angulimalas, auch wir befinden uns auf Abwegen, solange wir am Leiden anhaften. Die Anhaftung am Leid verursacht weiteres Leid.
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Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel
Deine Blog-Einträge sind ausserordentlich reich. Ich danke Dir für diese Bereicherung. Du sagst «Wir befinden uns auf Abwegen, so lange wir am Leiden haften.» Mit sich selbst aussöhnen heisst für mich, mir meine Schuld vergeben. Und da gibt es wie eine Mauer, die mich daran hindert. Was passiert da? Was wird da von mir gefordert?
Take care, Peter