Große Ohrringe stehen für ein Übermaß an Gefühl. Diese Erkenntnis durfte ich kürzlich gewinnen. Fotos von mir bestätigen das, doch kann man daraus eine Regel machen?
Ich erinnere mich noch an Zeiten in meinem Leben, wo ich explizit Kleines in meine Ohren gesteckt hatte. Da war ich pubertär und schon froh, dass ich mir überhaupt Löcher in die Läppchen stechen lassen durfte. Mein späterer Wunsch, dem einen noch ein zweites hinzufügen zu wollen, wurde aus abstrusen Gründen abschlägig beschieden. Leider war ich diesem Erlass ausgeliefert, mein Erwachsenen-Ich brauchte die Doppel-Durchlöcherung nicht mehr.
Später wurden die Ohrgehänge größer. Ich glaube ja, dass man in größere Ohrringe genauso hineinwachsen muss wie in Lippenstift. Zu früh wirkt er einfach unnatürlich, obwohl ich auch dazu sagen muss: Rote Lippen sind immer ein Hingucker und retten am Outfit vieles, was mit anderen Mitteln so schnell nicht zu leisten ist. In meinem Regal steht immer noch das Buch mit dem Titel „Ein Hauch von Lippenstift für die Würde“, und ich freue mich schon darauf, es zu lesen.
Ich liebe Ohrgehänge, weil ich finde, dass sie einer Frau den Hauch von Grazie verleihen. Denn frau sollte sich tunlichst gerade halten, wenn es an ihren Ohren pempelt, da sie sonst Gefahr läuft, die Balance zu verlieren. Und wenn man Grazie aus Sicht der Gefühle betrachtet, ist es tatsächlich so, dass ein Gefühl dahintersteckt: das Gefühl einer Königin. Im Laufe der Jahre habe ich unzählige Paare Ohrhänger gesammelt, auf der ganzen Welt. Und sie in Säckchen gehütet, um sie an einem speziellen Tag in der Zukunft herauszuholen. Irgendwann fielen mir Parallelen zum Sonntagsgewand auf, und ich beschloss, jeden Tag zu einem Sonntag zu machen.
Alle Farben, alle Formen – ich fühlte mich wie in einem Zuckerlgeschäft. Und das Gefühl des Überflusses konnte ich nicht leugnen. Aus dem Vollen schöpfen zu können, ist eine wunderbare Erkenntnis, was übrigens auch auf Lippenstift zutrifft. Nicht dass ich mir teure Ohrhänger gekauft hätte – die wirklichen Preziosen halten sich in Grenzen. Meist waren es preisgünstige Exemplare, die mir Freude schenkten und die Königin in mir ans alltägliche Licht holten.
Und dann entdeckte mein kleiner Nachbar die Ohrringe, die ihm so nahe waren, sobald er sich auf meinem Arm eingerichtet hatte. Und weil man als kleiner Mensch stets auf der Suche nach haptischen Erfahrungen ist, zog er einfach daran. Immer wieder. Nicht dass es geschmerzt hätte – ich fand das damals sogar ziemlich drollig, weil ich ja wusste, dass sie verführerisch waren. Doch irgendwann einmal stellte ich fest, dass sich meine Ohrlöcher doch über Gebühr geweitet hatten und meine Stecker einfach durchrutschten. Ich überlegte mir, ob ich diesen Zustand operativ verändern sollte, hatte sogar schon einen Termin bei einem plastischen Chirurgen. Schließlich wollte ich mich von dem Gefühl der Königin, sprich der Fülle nicht trennen, das mir die Ohrgehänge geschenkt hatten.
Dank der Lockdowns durfte ich diese Entscheidung noch einmal überdenken. Wie lächerlich, sich seine Ohrlöcher zunähen und neu durchstechen zu lassen, während Menschen im selben Krankenhaus um ihr Leben kämpften! Doch darüber hinaus hatte ich mehrere Feststellungen gemacht: Erstens gab es leichte Ohrgehänge, zweitens brauche ich keine äußeren Symbole mehr für meine innere Königin. Ich fühle mich auch in meiner Kraft, wenn kleine Buddhas oder Monde an meinen Ohrläppchen baumeln. Und gleichzeitig schone ich damit das Gewebe, das zugegebenermaßen einiges hatte aushalten müssen. Offenbar bin ich gefühlsmäßig in meiner Mitte angekommen.
Als ich dieses Thema kürzlich mit einer Freundin besprach, fiel mir ein Foto aus dem heurigen Sommer ein. Ich war in den Armen meines Liebsten und trug die größten Ohrringe, die ich jemals besessen habe. Die Ohrläppchen hielten durch, doch vermutlich nur deshalb, weil die Kraft der Liebe auch deren Gewebe gestützt hat. Ausnutzen wollte ich das nicht, auch deshalb, weil mir eines klar wurde: Wenn große Ohrringe für Emotionalität stehen und ich es inzwischen aushalte, auch „kleinere Brötchen“ zu backen, kann das nur bedeuten, dass ich gelernt habe, zwischen großen und weniger großen Emotionen zu unterscheiden. Das Leben ist eben nicht immer das ganz große Kino, und das kann manchmal auch sehr entspannend sein.
Weitere Beiträge von Claudia Dabringer finden Sie hier.
Bilder © Pixabay