Oft erinnere ich mich daran, was ich durch die griechische Philosophie gelernt habe, in der Schule und später durch Zeitungs- und Buchlektüre. Buddha sei den Mittleren Weg gegangen, heißt es, dies sei sein Markenzeichen.
Ich erkenne da etwas wieder, was mir nicht neu ist: die Lehre vom rechten Maß und vom Maßhalten. Im Grunde ist Buddha, so will es mir scheinen, der erste Suchttherapeut, denn durch ihn und seine Lehre erfahren wir tiefer als vorher, wie süchtig wir alle sind, dass vor allem die wohlhabenden Gesellschaften sowohl als Kollektiv als auch als Individuen den Hals nicht voll kriegen können, weil sie jedes vernünftige Maß verloren haben. Es wird nicht mehr gelehrt, und auch an humanistischen Gymnasien denkt man, wenn man Griechisch und Philosophie lernt, dass wir mit diesen antiken Lehren nichts mehr zu tun hätten. Ja, haben wir auch nicht – leider!
Mir tut es körperlich weh, wenn ich hören muss, wie schwer sich Erzieher und Politiker (beides sollte austauschbar sein) tun, von Verzicht zu sprechen, ja, ihren Zöglingen und Schützlingen Verzichtleistungen anzuraten. Schwere Worte wie Disziplin und Pflicht, die gerade wieder entdeckt werden, werden neu gewogen und nicht mehr nur mit Hitlers Parolen assoziiert. Die Frage scheint mir zu lauten: Kann man aus Pragmatismus, Vernunft und Umsicht zur Schlussfolgerung gelangen, dass Maßhalten beim Konsumieren, wovon auch immer, zu einem PLUS an Gesundheit, Zufriedenheit, Gemeinsinn führen wird? Und zwar zwangsläufig, nicht „vielleicht“.
Nun frage ich, was fehlt uns zum Entschluss, dieser Einsicht freie Bahn zu verschaffen? Maß. Halten. Zwei herrliche Worte, die die gesamte Lebens- und Sterbekunst enthalten. Ja, es gibt nur ein bestimmtes Maß an Lebensjahren, das uns zusteht. Unsere Fähigkeit und Übung, Maß zu halten, hat einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität dieser gelebten und noch vor uns liegenden Lebensjahre oder Lebenstage. Es gibt eine natürlich schwingende Grenze, die das „rechte Maß“ definiert. Das rechte Maß an Essen und Trinken, Schlafen und Wachen, Schweigen und Reden, Bewegen und Stillstand, Geben und Nehmen, Lenken und Lassen, Binden und Lösen, Aktivität und Muße, Gesellschaft und Alleinsein, Säen und Ernten … Das heißt doch, es kann niemals nur das Eine geben, und wenn die Lebensumstände nur das Eine nahelegen, müssen wir das Andere bedenken und für Ausgleich sorgen. Zum Beispiel: Wenn ein Mensch krank ist, im Bett liegt und unbeweglich ist, laufen andere für ihn und helfen diesem Kranken, wieder beweglich zu werden. Vielleicht braucht der Genesende eine Extrabewegung und geht zur Massage oder zur Physiotherapie.
Buddha sagt ferner, wir seien allverbunden und daher niemals allein. Er hat recht und auch wieder nicht. Ein Säugling erlebt das anders, kleine und heranwachsende Kinder brauchen für sie sorgende, Halt gebende Erwachsene und die Sehnsucht nach Freundschaft und Liebespartnern sehe ich auch anders als Buddha. Bei Menschen, die weder Trost noch Halt noch Verlässlichkeit als ganz junge Kinder erfahren haben, können Gier, Ärger, Hass besonders ausgeprägt sein, Lebensangst bestimmt ihr Leben, oft, ohne dass sie es wissen. Eine Gesellschaft, ihre Lehrer, Ärzte, Politiker, Künstler können also viel für das Gemeinwohl tun, wenn sie liebevoll und altersangemessen aufklären. Erziehung kann ein Nach-Nähren bedeuten. Lehren, gesunde Spielregeln einzuhalten. Freude am Schenken und Berücksichtigen des Anderen, des Freundes, der Freundin, des Nachbarn, können buchstäblich erfahren und erlernt werden. Das muss nicht nur in den Sanghas und im Kloster sein, wie Buddha empfahl, sondern überall im lebendigen Leben.
Maß zu halten mitten im lebendigen Leben, kann sehr schwer sein. Daher schätzen wir Menschen es, wir brauchen es sogar, wenn wir Räume und Zeiten vorfinden, in denen wir „nach Hause“ kommen können. Dort, in Tempel und Kirche, Meditationsraum und Wohnzimmer, gehen wir die inneren Listen durch und machen Inventur: Wann hat es geklappt mit dem Maßhalten? Wann nicht? Warum nicht? Worauf könnte ich mehr oder besser achten? Wer oder was könnte mich unterstützen?
Kümmere ich mich aktiv um meine großen Träume? Lebe ich mein Leben, das, für das ich geboren bin?
Suchtkrankheiten sind entsetzlich. Ich habe einschlägige Erfahrung, wie es ist und war, suchtkranke Eltern zu haben. Meine Sucht nach Nähe, Gehörtwerden, Sicherheit in Beziehungen, Zugehörigkeit hat mich und andere viel Leid gekostet. Die Psychoanalyse in Gestalt eines mutigen, ehrlichen Adlerianers hat den Boden für alle weiteren Therapien, Ausbildungen, ja, für meine Berufung als Poesiepädagogin bereitet. Dass ich mich ferner als Gruppenleiterin ausbilden ließ und einen dezidierten buddhistischen Weg und später Zen-Weg beschritt, hat meine Berufung enorm angereichert und konturiert. Stille-Übungen bot ich von der ersten Stunde meiner ersten Schreibwerkstatt 1991 an. Alle oben beschriebenen Sehnsüchte werden durch die Schreibgruppenarbeit erfüllt. Dazu kommt die unbeschreibliche Freude, Wesen beim Wachsen, Blühen und Fruchttragen erleben zu dürfen und hier und dort behilflich zu sein.
Meine Sucht, Gruppen zu leiten, steht auf dem Spiel. Durch Corona wurden die meisten Kollaborationen mit Institutionen eingestellt. Abstinenz schmerzt immer, bevor wir den Gewinn sehen können. Mein derzeitiger Gewinn besteht darin, dass ich mehr Zeit zum Lesen, Schreiben, Sitzen habe. Ein neues Fließgleichgewicht stellt sich ein. Die Ansprüche an das „Rechte Maß“ zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt, Studium und Muße, haben sich nicht erst seit meinem siebzigsten Geburtstag geändert. Langsam öffne ich mich diesem neuen Mischungsverhältnis. Das „Wunder des bewussten Atems“ zieht mich an. Die tolle Nachricht ist: Der Atem bietet sich uns dar, ist immer frei verfügbar. Ich wundere mich.
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