Leider habe ich bislang noch nicht geschafft, mich diesem politisch, sozial und menschlich wichtigen Thema so zu widmen, wie ich es anstrebe. Vielleicht klappt es in meiner Rekonvaleszenzzeit nach der in Kürze anliegenden Operation.
Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich von der Bedeutung „moderner Pilgerreisen“. Was verstehe ich darunter?
Dem Wandern des Jakobswegs und vieler anderer Pilgerwege nachempfunden stellen wir, oder stelle ich, eine mehrtägige Reise unter ein bestimmtes Motto. Das heißt, diese Bemühung, die auch etwas mit einer bestimmten Art des Fastens zu tun hat, widmen wir einem Anliegen, dem wir möglichst unsere ungeteilte Aufmerksamkeit geben möchten. Nach drei Pilgerreisen, die ebenfalls nach Sizilien führten, zweimal nach Lampedusa und einmal nach Nordsizilien und Kalabrien sowie einer nach Athen, sollte diese wunderbare Hauptstadt Palermo einmal im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Meine syrischen und ein paar afrikanische Freundinnen und Freunde freuten sich, dass sie und ihre Leidensgefährtinnen und -gefährten wenigstens bei mir und meiner Schwester im Mittelpunkt stehen würden. Die syrischen Freunde, mit denen ich seit einer Pilgerreise nach Athen/Piräus im Jahr 2016 am meisten Kontakt habe, heißen Sabah und Hassan (die Eltern), Nor (meine liebste Freundin) und Abdullah (liebster Freund). Doch da gibt es auch noch Ali, den jüngeren Bruder von Nor, der am schnellsten von allen in Kiel – wo die Familie, außer Abdullah, leben durfte – eine Lehrstelle als Friseur gefunden hatte.
Diese gastfreundlichste aller syrisch-kurdischen Familien lud mich in ihren Zeltkreis schon am ersten Tag der zehntägigen Reise nach Piräus ein. Ein kleines Trüppchen aus sozial engagierten Buddhisten verbrachte seine Tage in einem Flüchtlingslager im Hafengelände von Piräus: Wir wollten da eingesetzt werden, wo man uns brauchte.
Ich war mit Jonas, einem jungen Mann kurz nach dem Abitur gereist, der Gefallen an dem Ziel dieser Reise fand. Auch fand er bereits am ersten Tag Einsatzmöglichkeiten in der behelfsmäßigen Küche: einem großen und hohen dunklen Raum eines ehemaligen Fabrikgebäudes, in dem 90 % derer, die Gemüse schnippelten, Sachen sortierten oder mit Töpfen hantierten, junge Leute aus aller Herren Länder waren, die ihre Dienste, wie wir beide und „das Trüppchen“ unentgeltlich zur Verfügung stellten.
Doch über diese extrem berührenden Tage möchte ich ein anderes Mal gesondert sprechen. Sie sind für immer in mein Herz gebrannt.
Nur so viel: Ich erfuhr von Nor, der Sprachkünstlerin, die ich im Alter von 13 Jahren kennenlernte und die kürzlich 18 Jahre alt geworden ist, dass die Zeltstadt, die zur Heimat aller geworden war, mit Straßen und Dörfern und Spielplätzen sowie einer Flaniermeile, direkt am tintefarbenen Meer, evakuiert wurde. Man hat dergleichen schon gesehen: Kräne machten diese Arbeit, da ging schon mal das meiste, was man besaß, kaputt. Von dort zog die Familie, die noch aus Cousinen, Tanten und Onkeln bestand, auf die Straßen von Athen.
Nor hatte lange gebraucht, um mir das zu erzählen. Ich verstand, dass dies zum Schlimmsten gehörte. Sie war wohl auch irgendwie abgehauen, was man so mit 14 Jahren macht. Seitdem will sie so etwas wie Sozialarbeit studieren. Eine Weile lebte man dann im Krankenhaus: Unser „Trüppchen“ hatte so ein von Geflüchteten bewohntes Krankenhaus besichtigt, ich konnte mir also etwas darunter vorstellen.
Hassan war übrigens schon länger in Norddeutschland, er wartete auf seine Familie. Eines Tages war es so weit: Sabah, die Mama und Ehefrau, und Nor, flogen als Erste aus und schlugen sich irgendwie nach Kiel durch. Ich erhielt ein Handyfoto vom glücklichen Papa, nebst Gattin und seiner Tochter, und einem befreundeten deutschen Ehepaar, das aushalf.
Was soll ich, was kann ich sagen? Mir kamen die Tränen. Es war ein Wunder. Die behördlichen Schwierigkeiten in Griechenland, deren Zeugen wir zum Teil wurden, waren riesig: Wer wann mit einer Anwältin oder einem Anwalt sprechen konnte, zum Beispiel. Die Gesetzeslage änderte sich ständig, in Griechenland und Deutschland, man musste Geld haben (woher? Irgendein Familienmitglied in der Welt?), sprachliche Möglichkeiten (Nor und Abd sprachen Englisch, neben Kurdisch, Persisch, Arabisch) und es würde nicht mehr lange dauern und niemand käme mehr aus Griechenland heraus. Nach und nach tröpfelten Ali, und Abdullah zuletzt, ein. Der älteste Sohn durfte nicht mit seiner Familie wohnen, sondern musste sich in Hamburg melden. Was zu wiederkehrendem Kummer auf beiden Seiten führte. Abd lernte Deutsch, Freunde kennen und hatte mindestens einen Job. Bis er schließlich in Kiel eine Wohnung fand. Nor ist auf der Realschule, hat fantastische Noten in Englisch und Deutsch, darf nicht mehr ohne Kopftuch raus und spricht Deutschslang, also großartig. Eine größere Wohnung wurde gefunden, wo auch die Schwester aus Bremen, mit Kindern, Platz hat, wenn sie zu Besuch kommt.
Die Oma im Irak war schon krank, konnte schlecht gehen und sehen, jetzt ist sie sehr krank. Dort lebt auch eine Schwester von Sabah. Abdullah macht B2, außerdem hat er den Führerschein gemacht und es gibt ein etwas klappriges Familienauto.
Zweimal war ich schon in Kiel, einmal habe ich mich mit Nor in Hamburg getroffen und wir haben im Hotel übernachtet. Da junge Frauen nicht allein reisen und Abd B2 macht, muss ich wohl mal wieder in den Norden fahren.
Pilgertage, Pilgerreisen. Man ist traurig und sauer, dass die Ukrainer*innen es so unfassbar viel leichter haben, nach Deutschland zu gelangen und Fuß zu fassen.
Auch Ismael hat es schwer. Oder Osama, auch aus Syrien. Beide habe ich in einem Handyladen kennengelernt. Ismael ist der freundliche Ladenbesitzer mit sehr gutem Deutsch. Sein ganzer Laden ist oft voll mit Leuten wie mir: alt, allein, mit irgendeinem technischen Problem. Wer löst das? Ismael, sein kluger Neffe, der studiert und keine Bude findet. Oder einer der wendigen und schlauen Helfer, die kurz oder etwas länger vorbeikommen.
Nach Griechenland bin ich damals, nach der ersten Lampedusa-Pilgerreise 2014, gefahren, weil die Flüchtlingsströme sich auf die Inseln und Häfen dort verteilten. Lesbos war völlig überlastet.
Als ich mit der jungen schwarzen Frau sprach, die bei „moltivolti“ in Palermo arbeitete, sagte sie: „Doch, immer kommen welche in Palermo an. Aber die meisten immer noch auf Lampedusa.“
Wer kümmert sich wie um Gestrandete, Tote, Geflüchtete aus Afrika in Palermo?
Das hatte mich interessiert und ich hatte ein paar Antworten erhalten. Ich wollte unsichtbar und mit heißem Herzen dem Bürgermeister von Palermo, Leonluca Orlando, meine Aufwartung machen. Der verwandelten ehemaligen Mafiastadt mit Ehrerbietung begegnen. Wer so viele Migrant*innen zu verkraften hat – soviel wusste ich inzwischen – und dabei so allein gelassen wird wie Italien und besonders das strukturschwache Sizilien, verdient unseren Dank und unsere Anerkennung.
Mille grazie, amici!
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