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Im Straßengraben kauert eine Frau, unter sich ihr Bündel mit einem Laib Brot und Papieren, während hinter ihr die Stadt brennt. Die Frau ist keine Ukrainerin, sondern meine Mutter auf der Flucht aus Frankfurt an der Oder im Jahr 1945.

Und die Frau bin ich, die von dieser Mutter als Kind mit Gute-Nacht-Geschichten von Krieg und Gewalt gefüttert wurde. Im kollektiven Bewusstsein meines Landes schlummern die Traumata zweier Weltkriege, die mit einer hastigen Rückkehr zur „Normalität“ überdeckt wurden. Trauma ist eingefrorener Schmerz – und deshalb liegt in ihm unser größtes Mitgefühl. Jetzt ist der Moment, diesen Schmerz zuzulassen und ihm zu erlauben, unser Herz zu öffnen. Solange wir von Opfern und Tätern, Angriff und Verteidigung reden, halten wir uns den Krieg in der Ukraine mit Schlagworten vom Leib. Nur ein offenes und verletzliches Herz ist imstande, mit den Menschen zu fühlen. Dann sehe ich, dass ich die Frau bin, die in einem Keller in Charkiw ihr Kind zur Welt bringt, und auch der junge russische Soldat, der in ein angebliches Manöver geschickt wurde und getötet wird. In der spirituellen Dimension gibt es keine Trennung. Neben unserer praktischen Hilfe für die Ukrainer sollten wir den seit Generationen weitergegebenen Schmerz in uns wahrnehmen und umarmen und mit dieser stillen und bescheidenen Praxis ein klein wenig von dem großen Schmerz in der Welt erlösen.

KriegMargrit Irgang, buddhistische Schriftstellerin und Dichterin

 

Dieser Beitrag ist Teil einer Sammlung an Statements buddhistischer Lehrerenden für den Frieden in der Ukraine.

Bild Margit Irgang © Privat
Bild Header und Teaser © Unsplash

Margrit Irgang

Margrit Irgang

Margrit Irgang, Schriftstellerin und Meditationslehrerin, praktiziert Zen seit 1984, seit 1992 bei Thich Nhat Hanh.Sie leitet Retreats, schreibt Bücher und für Rundfunksendungen zu den Themen Spiritualität und Achtsamkeit und bloggt auf:www.margrit-irgang.blogspot.de.
Kommentare  
# Monika von Berg- Ver 2022-03-19 08:44
Danke für die klare Botschaft. Sie hilft mir, ein Stück aus der Ohnmacht herauszutreten und den Blick auf das zu lenken, was auch noch in mir gelöst werden möchte.
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# Ursula Gebert 2022-03-20 15:59
Liebe Margrit Irgang,
ich kenne schon lange Deine Bücher, lese seit einiger
Zeit Deinen Blog und kann sagen, daß Du mir (81) sehr oft weiter geholfen hast.
Jetzt, in der Zeit des schrecklichen Ukraine-Krieges habe ich versucht, in der Praxis (Kontemplation nach
Willigis Jäger) "gute Gedanken" hinzuschicken zu
all dem Leid, was mich unglücklich machte. Seit
einiger Zeit widme ich mich dem inneren Schmerz
(in meinem Leben, in der Welt) und merke,
daß es sich seltsam tröstlich anfühlt, wenn ich nun
versuche, mich auch mit dem unendlichen Schmerz in Kriegsgebieten zu verbinden. Aber ist das genug?
Die letzten Zeilen in Deinem Statement sprechen
direkt zu mir und ich danke Dir dafür.
Ursula Gebert.
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# Ursula Gebert 2022-03-20 16:01
Ich habe gerade einen Kommentar geschickt!
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