Die verstörenden Nachrichten und die schrecklichen Bilder vom russischen Überfall auf die Ukraine haben mich an ein Gedicht von Thich Nhat Hanh erinnert – „Nenne mich bei meinen wahren Namen“ – , in dem er die brutale Behandlung der Bootsflüchtlinge nach dem Vietnamkrieg beschreibt und sich auch in die soziale Situation der Piraten hineinversetzt.
Eine achtsame Betrachtung des gewaltsamen Geschehens wird nicht nur eine umfassende Solidarität mit dem ukrainischen Volk entwickeln und dessen Recht auf Selbstbestimmung unterstützen. Diese Sichtweise wird auch unterscheiden zwischen der von den Geistesgiften Gier (Expansionsstreben), Hass (Revanchismus) und Verblendung (Machtgelüste) getriebenen russischen Elite und der erlernten Hilflosigkeit der russischen Bevölkerung, die diesen Krieg weder gewünscht noch vorbereitet hat.
Das 21. Jahrhundert ist von einer global vernetzten Zivilisation, aber auch von zunehmenden Widersprüchen gekennzeichnet. Der Umgang mit diesen Problemen erfordert Innehalten (Samatha) und genaues Hinschauen (Vipassana), um eine von Verständnis und Verbundenheit beflügelte Hilfsbereitschaft tatkräftig umzusetzen. Dieses Vorgehen ist gleichzeitig der wirksamste Schutz vor allen Impulsen, die drei Geistesgifte in sich selbst zu nähren.
Auf diese Weise verwirklicht sich die zentrale Aussage in Thich Nhat Hanhs Gedicht: „Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen, damit ich erwache, damit das Tor meines Herzens von nun an offensteht – das Tor des Mitgefühls“.
Manfred Folkers, Dharma- und Taiji-Lehrer
Dieser Beitrag ist Teil einer Sammlung an Statements buddhistischer Lehrerenden für den Frieden in der Ukraine.
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