Im Folgenden will ich versuchen, die Pandemie aus zwei grundsätzlichen buddhistischen Grundsätzen zu beleuchten. Zum einen geht der Buddhismus vom grundsätzlichen Unwissen der Menschen aus und zum anderen empfiehlt er die Entwicklung von Mitgefühl und Weisheit.
Die Coronaproteste verstehen sich dagegen als Freiheits- und Wahrheitsbewegung.
Um die Wahrheitsfrage zu erörtern, spielt es eine große Rolle, das Verhältnis von Wissenschaft und Buddhismus zu bestimmen, und damit die Frage, welches Wissen durch Wissenschaft und welches durch Buddhismus erlangt werden kann.
Die Frage nach der Wahrheit ist nicht akademisch, sondern aktuell politisch.
Trotz des derzeitigen Abflauens der Pandemie nehmen die Coronaproteste weiter an Fahrt und an Gewalt auf.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass häufig Wissenschaft und Spiritualität auch von buddhistischer Seite oft gegeneinander ausgespielt werden und eine höhere spirituelle Wahrheit gegenüber einer weniger aussagekräftigen wissenschaftlichen Wahrheit reklamiert wird.
Um dieses gegenseitige Ausschließen in einen heilsamen Umgang von Wissenschaft und Spiritualität (und Buddhismus) umzuwandeln, ist es wichtig, sich die Grundlehren des Buddhismus vor Augen zu halten: Alles Leben ist Leiden, dessen Wurzel in Unwissenheit, Gier und Aversion liegt. Der Ausweg aus dem Leiden sind Weisheit und Mitgefühl.
Mitgefühl umfasst alle Menschen und schließt Menschen anderer Meinung nicht aus. Bei allen unterschiedlichen Meinungen spannt das Mitgefühl einen weiten Bogen über Wissenschaftler*innen, Coronaleugner*innen und Unwissende, Pfleger*innen, Ärzt*innen, Patient*innen. Nicht mit Hass auf andere Meinungen zu reagieren, kann nur gelingen, wenn wir uns der eigenen Unwissenheit bewusst sind. Jeder Wissenschaftler sollte wissen, dass alle seine Erkenntnisse vorläufig sind und sich in einem riesigen Meer von Unwissen bewegen. Die Sucher auf spirituellen Wegen sind in einer ähnlichen Situation, ihre Meditations- und Erwachenserfahrung immer wieder prüfen zu müssen und zu erkennen, dass endgültige Erleuchtung allenfalls einem Buddha vorbehalten ist und kein spiritueller „Meister“ unfehlbar ist. Die daraus resultierende Bescheidenheit steht dem Wunsch vieler Menschen nach absoluter Wahrheit entgegen. Wissenschaftler und spirituelle Menschen müssen sich als Lernende begreifen und nicht mit der Klatsche der Wahrheit Fragen und Fragende wegschlagen. Jeder Bereich hat seine Grenzen. Kein Wissenschaftler kann Aussagen über die Wege der nach dem Glück Suchenden treffen, kein buddhistischer Lehrer die physikalische Struktur der Welt erklären. Gefühlte spirituelle Befindlichkeit ersetzt keine Wissenschaft.
Als Grundlage der Erforschung der Wirklichkeit sehe ich sowohl bei der Wissenschaft als auch im Buddhismus die Einsicht von Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Wissenschaftliche Ergebnisse werden immer wieder aufs Neue überprüft, und Buddha lehrte immer wieder, alle Meditations- und Einheitserfahrungen einer ständigen Prüfung zu unterziehen. Sowohl Wissenschaft als auch Buddhismus unterscheiden sich von den Glaubensreligionen, deren Wahrheitsgehalt als absolut gesetzt wird mit der Folge, dass andere Ansichten abgewertet und letztlich bekämpft werden. Der Glaube an den Besitz der absoluten Wahrheit in fundamentalistischen Religionen und Weltanschauungen führte letztlich zur Gewalt in der Religionsgeschichte und führt auch heute zu Gewalt, wenn jemand beansprucht, höhere Einsichten als andere zu besitzen, die nicht mehr überprüfbar sind. Wahrheitsbesitz schließt Mitgefühl und Liebe aus und damit auch Respekt vor anderen Ansichten. Hier liegt die Gefahr spiritueller Gurus und der Zunahme von Missbrauchsskandalen. Wenn die Wahrheit allein für sich in Anspruch genommen wird, so gilt Freiheit folglich auch nur für die Verbreitung der eigenen Meinung, und die Freiheit Andersdenkender wird unterdrückt. Wahrheit löscht Freiheit aus. Die Freiheit eines Galilei, wissenschaftlich zu forschen, wurde von der Wahrheitskommission der katholischen Kirche ausgelöscht. Dem Zweifel an der Wahrheit folgt die Todesdrohung, auch heute.
Eine buddhistische Sicht entwickelt aus dem Wissen um die eigene Beschränkung Mitgefühl für andere und ermöglicht eine dialogische Wahrheitsfindung, wie er vorbildlich in dem „Life and Mind Institut“ des Dalai Lama mit Naturwissenschaftlern geführt wird. Wer sich entschließt, nur einer Wahrheit zu vertrauen, geht einen unheilvollen Weg, während das Vertrauen in die Wissenschaft oder in den Buddhismus Mosaiksteine zur Wahrheitsfindung zusammenträgt. Wer Wahrheit nur für sich in Anspruch nimmt, hat sich bereits von einem Dialog ausgeschlossen und gesellschaftlich isoliert. Weisheit bedeutet, die eigenen Grenzen des Wissens zu kennen.
Ihr Willi Reis
ich schätze die Klarheit in diesem Artikel.
Herzlich
Joachim