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Übersetzung der Geschichte zu Beginn des ersten Kapitels: „Vorstellungskraft“ des Buches* „Die Welt könnte anders sein“ ( Originaltitel: The World Could Be Otherwise – Vorstellungskraft und der Weg des Bodhisattva, S. 1–3, von Norman Fischer).

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Hier folgt eine Geschichte, wie die Vorstellungskraft die Welt ändert, sogar unter den schlimmstmöglichen Umständen. Der französische surrealistische Dichter Robert Desnos hat damit zu tun.

Desnos war jüdisch. Während des Zweiten Weltkrieges ging er in den Untergrund, um im Widerstand zu kämpfen. Er wurde gefangen genommen und in Konzentrationslager geschickt.

Eines Tages findet sich Desnos mit vielen anderen Männern zusammengepfercht auf dem Bett in einem der Lastwagen, die Gefangene aus den Barracken transportieren, wieder. Den Männern ist vollends klar, wohin sie gehen werden. Die Lastwagen verlassen die Baracken immer voll und kehren leer zurück. Ihr Ziel sind die Gaskammern und die Öfen.

Kein Einziger auf dem Lastwagenbett spricht. Die Stimmung ist resigniert, alle sind niedergeschlagen. Blicke nach unten. Gesichter grimmig.
Als der Lastwagen ankommt, steigen die Gefangenen langsam und schweigend aus, wie in einem Traum. Die Wächter, die normalerweise scherzen und herumplänkeln, hören auf zu sprechen, sind nicht in der Lage, die Stimmung der Gefangenen nicht an sich heranzulassen. Aber diese beinahe religiöse Stille wird jäh unterbrochen. Einer der Männer in der Schlange der Gefangenen springt plötzlich auf, mit großer Lebhaftigkeit nach der Hand des Mannes hinter ihm fassend, sein Körper wie von Energie durchschüttelt, beginnt er, die Hand des Mannes zu lesen:

„Ich bin so aufgeregt für dich!“, ruft er glücklich aus. „Du wirst ein sehr langes Leben haben! Du wirst drei Kinder haben! Eine schöne Frau! So fantastisch! So wunderbar!“

Seine Aufregung steckt an. Erst streckt ein Mann, dann ein anderer seine Hand zu ihm hin, schockiert und verwirrt. Jeder empfängt die gleiche Sorte Weissagung: langes Leben, Kinder, Wohlstand, aufregende Karriere, schöne Umgebung, Frieden, Glück, Erfolg, unendliche Freude.

Während Desnos eine Hand nach der anderen liest, verändert sich die Atmosphäre des Moments vollständig – anfangs Tropfen für Tropfen und dann wie in einer Gezeitenwelle, die auf einmal bricht. Die Gefangenen lächeln, klopfen einander auf den Rücken, ihre Bürde emporgehoben, ihre Wirklichkeit transformiert.

Noch erstaunlicher jedoch ist, dass die Wachthabenden auch angesteckt werden. Wie die Gefangenen selber haben sie unter dunklem Fluch gelebt, wo es eine normale und akzeptable Gegebenheit darstellt, dass sie die Männer zur Schlachtbank führen. Aber jetzt, bei diesem absurden und nie da gewesenen Ereignis, dieser plötzlichen und kostenfreien Anrufung einer alternativen Realität bricht die Verwünschung zusammen. Die Wachtmänner sind orientierungslos und verwirrt. Die Realität, die sie noch einen Moment zuvor gelebt haben, wird irgendwie und unversehens in Zweifel gestürzt, völlig zerschlagen. Sie sind sich nicht länger sicher darüber, was wirklich ist und was nicht. Vielleicht ist ihre bessere Natur – lange unterdrückt bei dem Bemühen, mit der Verrücktheit der Nazis übereinzustimmen, die ihre Welt definiert, lange taub gegenüber Trauer, Schuld, Entsetzen – durch Desnos‘ kraftvolle Hingabe zu dieser absurden – oder vielleicht nicht absurden Vision – aufgestört. Wer weiß? Jedenfalls sind sie derart erledigt durch die fröhliche Szene vor ihren Augen, dass sie nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Sie können mit den Exekutionen nicht weitermachen. Also führen sie die Gefangenen zum Lastwagenbett und schicken sie zurück in die Baracken.

Bodhisattva

Durch diese spontane Imaginationsübung – die genau der Bewegung in Desnos‘ Dichtkunst entspricht, die er stets vornimmt – wurden er selber und die Männer vor der Hinrichtung bewahrt. Desnos überlebte die Lager, aber leider nicht den Krieg. Er starb an Typhus einige Tage nach der Befreiung.

Ich erhielt diese Geschichte von dem Dichter Alan Bernheimer, einem Übersetzer von Desnos, der sie von der Schriftstellerin Susan Griffin hatte, die sie von ihrer Freundin Odette hörte, selber eine Schriftstellerin und Überlebende des Holocaust. Als ich sie zum ersten Mal hörte, war ich enorm bewegt. Doch dann überlegte ich, ist sie wahr? Ist das wirklich geschehen? Es klingt ein wenig zu gut, um wahr zu sein. Ich kenne Susan Griffin nicht, aber ich nahm Kontakt mit ihr auf, um sie zu fragen. Sie sagte, sie glaube sie. Odette, schrieb mir Susan, hat den Vorgang nicht bezeugt, aber sie hörte davon von Menschen, die Augenzeugen gewesen waren.

Wochenlang trug ich die Geschichte in meinem Herzen, wie ein Zen Koan, darüber nachsinnend, indem ich die Gedanken um- und umdrehte. Eines Tages hatte ich eine Erkenntnis: Natürlich ist diese Geschichte wahr! Auf jeden Fall, absolut wahr. Es war so geschehen, auf die eine oder andere Weise.

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Wie denken Sie darüber? Norman Fischer fragt sich, ob er die Geschichte glaubwürdig findet, und kommt zu dem Schluss: „Ja, ich fühle, dass sie wahr ist.“

Ich finde, dass es sich sowohl um eine Weihnachtsgeschichte („Die Türen wurden endlich aufgetan“) wie auch um eine Transformationsgeschichte handelt, die ein neues Jahr einläutet. Am liebsten würde ich einen Workshop dazu veranstalten, weil wir an ihr so viel lernen können. Was ist nötig, not-wendig, das heißt, was bringt DIE GROSSE WENDE? Hier sind Großmut angesagt, Beherztheit, Edelmut, Barmherzigkeit. Ein fester Glaube, woran eigentlich?

Ich werde dieser Geschichte nicht müde, sie lässt mich nicht los, und ich wünsche mir und Ihnen den Geist des Dichters und Handlesers: überzeugt und überzeugend, begeistert, großzügig. Den Geist derer, die empfangen, in tiefster Not, denn sie haben absolut nichts mehr zu verlieren. Den Geist der Wachhabenden: sich berühren und anstecken lassen von Güte und Glückseligkeit, an einem Ort, der ganz andere Eigenschaften verlangt. Den Geist derer, die diese Geschichte hörten: sie zu glauben und weiterzuerzählen. Haben wir wirklich eine andere Wahl?

Lassen Sie uns gut wählen, im Jahr 2022, lassen Sie uns das Gute wählen: Welches Leben wollen wir für uns und andere und für die in Not – das können auch wir selber sein, wir wissen es nicht. 

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Bilder © unsplash

Monika Winkelmann

Monika Winkelmann

Monika Winkelmann, geboren 1952, Mutter einer erwachsenen Tochter, geschieden seit 2019, hat 1980 mit 28 Jahren ihr erstes Meditationswochenende in Hamburg besucht. Diese tiefgreifende Erfahrung sowie ihr Leben als Alleinerziehende der Tochter Lisa, geb. 1984,  bewirkten, dass sie viele Jahre a...
Kommentare  
# Mathilde Pachta 2022-01-18 14:06
Sehr berührend danke
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