Meinen Großeltern geht es gut. Davon habe ich mich Anfang der Woche überzeugen können. Und ich weiß auch, dass sie es mir nicht übel nehmen, wenn ich diesen Ort nur einmal im Jahr besuche.
Gleich vorweg: Ich mag Friedhöfe, und wenn ich auf meinen Reisen einen besonders schönen entdecke, verbringe ich auch einige Zeit an diesem Ort. Hin und wieder habe ich gezielt Friedhöfe besucht, wie beispielsweise in Paris, auf den Azoren oder in meiner Stadt. Die Atmosphäre dort ist friedlich, meist blüht immer irgendwo irgendwas, und auch an Kerzen und Lichtern mangelt es meist nicht. Ich studiere die Inschriften auf den Grabsteinen, finde manchmal kuriose Namen, die ich in meinen Geschichten verwende. Kurz: Friedhöfe haben für mich etwas Inspirierendes.
Anfang der Woche stand ich vor dem Grab meiner Großeltern, wie wahrscheinlich viele von Ihnen. Es regnete, und glücklicherweise waren die Temperaturen so angenehm, dass man am Haltegriff des Regenschirms nicht festfror. Rechts neben meinen Eltern und mir stand der Rektor meiner Alma Mater, links herrschte gähnende Leere, die nur die senfgelben Knollenchrysanthemen ausfüllen konnten, die den Weg auf die Grabplatte gefunden hatten. Ich finde ja, dass diese Blumen zu Unrecht von Friedhofsaura umgeben sind. Viel zu schön, viel zu saftig, viel zu kompakt, als dass sie ihr Dasein nur auf dem Gottesacker fristen sollten. Ich habe sie in drei verschiedenen Farben für meinen Garten gekauft, und mein kleiner Nachbar hat bestimmt, wo sie stehen sollen – nämlich dort, wo er sie auch sehen kann. Man kann einfach nicht früh genug von Knollenchrysanthemen angefixt werden.
Der Regen erschwerte das Anzünden der obligatorischen Kerzen, vor allem wenn in der einen Hand der Regenschirm balanciert und mit der anderen ein Streichholz angezündet werden soll. Und nein, ich habe nicht versucht, mit den Zähnen die Deckel der Grabkerzen zu öffnen, damit das Feuer den Docht erreicht. Ich habe die Dusche unter den Wolken gewählt, damit wir bis zum Weihwasserregen des Pfarrers einen kleinen Flammensee zustande bringen. Es gibt ja diese Meditationsübung, bei der man eine bestimmte Zeit in eine Flamme schaut. Sie kann den ruhelosen Geist beruhigen, die Aufmerksamkeit erhöhen und schließlich zu schärfster Konzentration auf einen Punkt führen. Und was normalerweise gut klingt, ist im Kontext einer Andacht mit anschließender Gräbersegnung eher störend. Weil einem die Konzentration auf die Flamme eben umso mehr bewusst macht, was denn während dieser Andacht erzählt wird. Und nein, es genügt nicht, die Kinder und Jugendlichen zu begrüßen, danach aber damit zu beginnen, ob man sich denn schon die Frage nach dem eigenen Tod gestellt habe. Vielleicht liegt es ja an mir, die die Schnauze aktuell gestrichen voll hat von negativen Gedanken, Worten und Impressionen. Es hilft einfach nichts, immer wieder auf das Schlechte hinzuweisen, wahlweise es herbeizureden. Und selbst wenn wir anderthalb Jahre lang gefühlt dauernd mit dem Tod konfrontiert waren, weil wir täglich die entsprechenden Sterbezahlen frei Haus geliefert bekommen haben, bedeutet das in meiner Welt nicht, dass man dort, wo man Ahnen und Ahninnen gedenken soll, erst recht wieder mit dem Sterben konfrontiert wird. Und nein, so wird die Institution Kirche keine Kinder und Jugendlichen willkommen heißen können.
Verstehen Sie mich nicht falsch – ich finde den Tod in vielen Fällen unnötig, entbehrlich und auch zu früh auf dem Zettel. Doch ich wurde bereits Mitte meiner Zwanziger damit konfrontiert und musste mir meinen Reim darauf machen. Einen Reim hineinbringen in die Gedanken, wie ich es denn mit dem Sensenmann halte. Seitdem ist er kein Tabu mehr für mich, sondern Gegenstand von Überlegungen, die ich mindestens einmal die Woche anstelle. Er ist Teil meines Lebens, wie er Teil des Lebens von allen ist. Wenn wir unser Gehirn bereits nach dem Schlüpfen gebrauchen könnten, wüssten wir: Er bleibt uns nicht erspart. Und wir würden uns aufmachen, aus den Jahrzehnten vor uns das Beste zu machen, was möglich ist. Doch durch die Verdrängung ist die Panik davor, dass der Sensenmann dann doch irgendwann einmal anklopft, umso größer.
Meine Großeltern, die in einer Einigkeit übereinander liegen, die sie in ihrem Leben selten hatten, gingen ziemlich realistisch mit dem Tod um. Meine Oma hatte über lange Jahre eine unerfüllte Liebesbeziehung zum Sensenmann. Sie hat ihn angefleht und tausendmal gefragt, wann er sie denn endlich holen wird. Und er hat ihr die kalte Schulter gezeigt. Mein Großvater wickelte dieses Kennenlernen recht zügig ab. Bei ihm gab es wie im Leben kein langes Fackeln, keine ungeliebten Diskussionen, kein Hin und Her. Er hatte zwar jahrzehntelang einen ziemlichen Respekt vor dem Übertritt, aber irgendwann einmal hatte er seinen Frieden damit geschlossen. Und sich ganz in sein Schicksal ergeben.
An all das denke ich, während der Pfarrer darüber spricht, wie wichtig die Grabpflege ist, was sie bedeutet und dass man sich darüber Gedanken machen sollte. Nicht einmal, nicht zweimal – dreimal hören wir diesen Sermon, als gäbe es nicht Wichtigeres. Ich bin ja in Sachen Grabpflege Minimalistin, meine Mutter mag das Dekorative. Deshalb ist der irdische Kleingarten meiner Großeltern auch stets tipptopp. Doch ganz ehrlich – ist es nicht viel wichtiger, die Ahnen und Ahninnen im täglichen Leben zu ehren? Sich immer wieder an ihre erfreulichen Seiten zu erinnern, ihre Geschichte zu reflektieren, ihre Lehren aus dem Leben für die heutige Zeit zu übersetzen? Mein Opa schaut mir täglich bei der Arbeit zu, meine Oma lacht von einem Foto, auf dem sie mit mir in einem schauderlichen dottergelben Kostüm schaukelt. Beide haben mich bedingungslos geliebt und mir bedingungslos alles zugetraut. Dafür bin ich ihnen jeden Tag dankbar und nicht nur einmal im Jahr. In diesem Sinne feiere ich jeden Tag eine Gräberandacht, aber eine, die höchst lebendig und auf das Leben hin orientiert ist. Das haben mich meine Großeltern gelehrt; ich ehre sie damit weit über ihren Tod hinaus. So hätten sie es sich gewünscht, da bin ich sicher.
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