Heute möchte ich, die Freundinnen und Freunde aus Österreich, an dieser Erfahrung teilhaben lassen. Leider wart/seid Ihr ja auch von Überschwemmungen betroffen, und ich habe ein Video gesehen, in dem Helfer mit schweren Maschinen aus Österreich gezeigt wurden. Was mich sehr berührt hat.
Natürlich wartete ich schon auf eine Gelegenheit, selber meine Hilfe anbieten zu können. Die Urlaubswoche mit meiner Schwester, die wir wegen der Hochwasser nicht in Holland, sondern in Bonn verbrachten, wollten wir nicht an der Ahr verbringen, was wir ernsthaft überlegt hatten. Wir waren erschöpft und müde von Arbeit und Verarbeitung der Pandemie und müssten uns auf unsere Regeneration konzentrieren, fanden wir. Die Entscheidung fiel nicht leicht, da viele ihren Urlaub geopfert hatten, um den schwer geschädigten Menschen, Tieren und der Natur beim Aufräumen des Mülls unter die Arme zu greifen.
Als ich eine E-Mail von Kontemplationslehrer Winfried Semmler-Koddenbrock erhielte, hüpfte mein Herz.
Vergangenen Mittwoch, am 11.8., sollte ich um 8:20 Uhr am Bahnhof Duisdorf sein, ich könne dann mit Winfried und seiner Frau Renate mitfahren. Ich hatte wenig geschlafen, wünschte fieberhaft, helfen zu können, man kam aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zum Parkplatz bei Haribo. Ansonsten hatte viele Termine in der Woche und Angst, welcher Anblick sich mir darbieten würde.
Rainer K. in Winfrieds Auto am Duisdorfer Bahnhof wiederzusehen, war eine große Freude. Jahrelang hatte er als Kriegsenkel meine Gruppe Dialog- und Schreibwerkstatt für Kriegskinder und Kriegsenkel mit seiner Ehrlichkeit und Offenheit bereichert.
Der Platz bei Haribo war schon gut gefüllt mit bunt angezogenen Menschen und weißen Zelten. Wir stellten uns vor bei Michael, der seit drei Wochen diesen Job der Koordination von Shuttlebussen und Aufgaben im Tal wahrnahm und die Helferinnen und Helfer den geeigneten Plätzen zuführte. Er machte das einfach großartig: Uns begrüßend. wurde kurz gecheckt, wer neu war (drei von uns), wer eine Maschine dabeihatte, und schon wusste jeder, was er oder sie machen wollte (Winfried), wer evtl. auf dem Platz bleiben würde, auf dem es auch genug zu helfen gab (Rainer und ich). Wir wurden dem Kaffeeteam vorgestellt, um dort evtl. einzuspringen. Es war noch früh, der erste Shuttlebus kam pünktlich, wie nach ihm alle anderen auch. Heute würden die Winzer als Erstes dran sein: Alle, die am Weinberg arbeiten wollten, evtl. mit schweren Maschinen, größere Teams stiegen in den ersten Bus.
Ich schaute mich auf dem Gelände um.
Es gab eigentlich alles, von dem ich annahm, wir müssten es mitbringen: Masken. Arbeitsbrillen (der Staub ist überall und giftig), Gummistiefel, Arbeitsklamotten, Schippen, Schaufeln, Besen, Eimer. Ich schnappte mir einen großen, neuen Besen und wusste: Ich möchte unten, in Bad Neuenahr, eingesetzt werden.
Wir fanden wieder zusammen und fuhren im vollbesetzten dritten Bus nach Bad Neuenahr. Nicht alle bekamen einen Sitzplatz, man versuchte, geschickt die Eimer und Geräte ineinander und zusammenzustellen. Die Einfahrt in den Ort, den man ein wenig zu kennen glaubte (einige Male war ich in der Therme gewesen, auch einmal herumspaziert, immer mit dem Zug gefahren, das heißt am Bahnhof angekommen), war schon gruselig. Kein Sperrmüll hier, aber blasse Farben durch den gelblich getrockneten Staub, seltsam anmutend, vielleicht wie kleine Dörfer in Frankreich, die man von früher kannte: mit einer lauten, hässlichen Durchgangsstraße, staubig, ohne eine einzige Pflanze, nichts, wo das Auge hängenbleiben möchte. Michael instruierte uns noch: Der Bus kommt immer ganz pünktlich (um 16 Uhr), wir waren angehalten, uns nicht zu verspäten. Er gab uns auf, auf die heruntergelassenen Rollläden zu achten und uns zu vergegenwärtigen, dass Menschen dahinter wohnen, die diese Jalousien nicht haben hochziehen können, weil sie keinen Strom haben, bis jetzt jedenfalls, und dass wir doch bitte versuchen sollten, an die eine oder andere Information zu gelangen, zu rufen, zu klopfen … ruhig auch aufdringlich zu sein. Er berichtete uns noch über Plätze, an denen man sich treffen könnte, die gleichzeitig Hotspots wären, wo man etwas zu trinken, meistens auch zu essen bekäme, Ladestationen für Handys und diverse Infos fände. Er wünschte uns Glück, und der erste Trupp setzte sich in Richtung einer bestimmten Straße In Bewegung. Obwohl ich vorher noch der Meinung war, man sollte mindestens zu zweit zusammenbleiben, verspürte ich den Drang, mich mit diesem Stadtviertel und seinen Gegebenheiten erst einmal alleine vertraut zu machen. Zum Glück löste sich der Stiel des langen, schweren Besens schon nach Kurzem vom eigentlichen Besenteil, sodass ich mich entschloss, beides an exponierter Stelle plus Eimer abzustellen. Ich war damit unnötig belastet, und jemand anders würde sich vielleicht freuen, genau das zu treffen, was gebraucht wurde. Ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe kam meines Weges, und ich fragte ihn, in welcher der zerstörten Straßen er mich gerne sehen würde. Er sagte Mittelstraße und schickte mich Richtung Bahnhof, den ich nicht sehen konnte. Ich lief los, motiviert, entschlossen, wach und bog bald in die Straße ab, in die mich meine Nase zog. Von da an war das mein bewährtes Rezept: nur auf meine Intuition zu vertrauen.
Eine Geisterstadt empfing mich. Wenige Menschen waren draußen zu sehen, Kinder oder Hunde gar nicht. Alle Geschäfte und Cafés waren geschlossen, schließlich war alles verdreckt, und je näher ich der Ahr kam, desto verdreckter bzw. zerstörter und absurder war das, was ich sah. Sofern es überhaupt noch intakte Zäune gab, hing Unrat darin. Vor den Untergeschossen der Häuser türmte sich in einer Ecke dieser Unrat, der vom wieder abfließenden Hochwasser übrig geblieben war. Selbst die sichtbar aufgeräumten und einigermaßen intakt gebliebenen Vorgärten sahen seltsam und hässlich aus, da alle Blätter eines Strauchs zum Beispiel meterhoch mit einem Grauschleier überzogen waren. Dieser Grauschleier lag auf allem, auf den Quadraten, aus denen Bäume ragten, auf Klingelkästen … Autos waren natürlich nicht zu sehen, Fahrräder und Roller nicht, keine Bänke, keine Blumen, keine Vögel. Entkleidete Häuser, die ihr Inneres feilboten, zu viert oder fünft frei liegende Rohre aus dem Kanalsystem, lebendig alleine die Traktoren, Riesenkranautos, Lkws mit überdimensionalen Reifen, alle laute Geräusche von sich gebend. Ich begann, sie zu lieben, diese Ungetüme, die aus Hamburg, Aschaffenburg und anderen Regionen gekommen waren, von Arbeitgebern freigestellt. Ebenso liebte ich die Menschen, meist Männer, die unerschrocken im Dreck hockten, den Vorrat an Heizöl in Kellern maßen und notierten, an den dicken Kabeln saßen und daran herumfrickelten, den Kran bedienten und Fuhre um Fuhre Dreck irgendwo anders hin dirigierten. Die ihre Riesenwagen sorgsam über nicht vorhandene Straßen lenkten, über die neue Brücke oder nach auswärts, um die Berge Unrat auf ein Schiff zu verladen oder sonst wohin zu bringen. Eine nie gekannte Hochachtung und Freude erfassten mich vor denen, die das Unsichtbare eines Dorfes, einer Kleinstadt erschaffen: Stromversorgung, Kanalisation, Heizung. Reparatur. Großeinkäufe, zum Beispiel von Trinkwasser. Dixi-Toiletten mussten gereinigt, neue aufgestellt werden.
Zwei-, dreimal bin ich heruntergelassenen Jalousien nachgegangen. Öfter war ich einfach so in den verwüsteten Hinterhöfen. Meistens waren die Haustüren verschlossen, und die Klingeln funktionierten nicht. Eine Tür war offen, und ich ging hindurch, die verschmierte Treppe, die ganz sicher schon gereinigt worden war, hoch. Vor einer Tür, die irgendwie nach Leben aussah, vielleicht standen Schuhe davor, blieb ich stehen. Ich klopfte. Ich klopfte wieder. Meine Stimme zu erheben, traute ich mich noch nicht. Heute würde ich mich mehr trauen, man übt und lernt, überall, passt sich den Gegebenheiten an, spürt, was zu tun ist. Ich ging zur Straße zurück und sah, dass jemand gegenüber am offenen Fenster saß. Ich rief der Person etwas zu, und die Frau erschien im Fenster. Wir begrüßten uns. Ich sagte, ich bin eine Helferin. Das wurde immer akzeptiert, obwohl ich keine Berufskleidung trug. Ich fragte sie, wie es ihr gehe und ob jemand in ihrem Haus Hilfe bräuchte. Sie sagte, sie seien jetzt vier Wochen ohne Elektrizität, und es gäbe nur kaltes Wasser. Man helfe sich gegenseitig im Haus.
Ob sie wisse, was gegenüber los sei und rundherum? Nicht so ganz, meinte sie. Ich wünschte ihr Glück und alles Gute und dass bald der Strom zurückkäme. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung, dass rund drei Viertel aller Bewohner wieder ans Stromnetz angeschlossen seien.
Ich traf noch auf weitere Menschen aus dem Ort, die gerne mit mir sprachen, auf freundliche Bibliothekarinnen, die am Infostand wichtigste Telefonnummern und Infos, auch der Polizei verteilten. Am Hotspot bekam ich einen guten Salat und ein Brötchen zu essen und fragte eine Dame vom Roten Kreuz, wie es ihr gehe. Vier Wochen war sie schon da und unheimlich froh, helfen zu können. Ich begegnete an der Ahr einer Frau und einem Mann aus Hamburg, die von der Johanniter-Unfallhilfe waren und schon vier Tage vor Ort waren. Wir begrüßten uns freudig, wie Freunde. Und was macht ihr hier?, fragte ich. Mit Leuten reden, war die Antwort. Genau wie ich, entgegnete ich, und wir standen bestimmt eine Dreiviertelstunde zusammen, tauschten Adressen aus und verabschiedeten uns mit einer Umarmung. Auch die Helfer und Helferinnen brauchen ein offenes Ohr, dachte ich, und Umarmungen.
Ich werde nächste Woche von den anderen beiden Gesprächen und dem völlig verwüsteten Friedhof erzählen. Alle Eindrücke zusammen haben in mir den starken Wunsch geweckt, zurückzukehren, am liebsten wieder nach Bad Neuenahr. Und gerne mit einer Übernachtung; die beiden aus Hamburg übernachteten wie die meisten anderen vom THW oder vom DRK auch in Zelten. Wer kommt mit?
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