Die Kunst des Lebens ist mit der Kunst des Spielens sowie mit der Kunst des Reifens verbunden. Doch was ist Spiel und was ist Reife, und wie hängt beides miteinander zusammen?
Vielleicht könnte man sagen: Bei Spiel ohne Reife drohen Sucht, Oberflächlichkeit, Stillstand, und bei Reife ohne Spiel fehlen Humor, Leichtigkeit, Bescheidenheit.
Irgendwo erkennen wir uns wieder. Wir werden abhängig von der Leichtigkeit, die Spielen versprechen kann, und verweigern uns den härteren Anforderungen des Lebens: Zuverlässigkeit, Durchhaltevermögen, Geradlinigkeit. Aufforderungen zu Verzicht jeder Art – ob vom Leben oder von Mitmenschen auferlegt – erleben wir als freche Einmischung in unsere Angelegenheiten, als Unrecht, das uns angetan wird, als Willkür und schreiten zur Gegenwehr. Diese innere Bewegung, die eigentlich jede*r von uns kennt und mehr oder minder in Schach hält, führt zu einem merkwürdig rebellischen Geist, der eher in die Pubertät gehört und der Philosophen wie Richard David Precht ein Loblied auf die „Pflicht“ schreiben lässt. Zu Recht, aus meiner Sicht. Dies ist der Stoff, den sicherlich einige der Querdenker*innen auf die Barrikaden treibt: sich wehren müssen, aber wogegen eigentlich? Das ist verspätete Pubertät, das sind Ablösungskämpfe, die zwischen zwölf und achtzehn Jahren, grob gesagt, stattfinden müssen, damit sie ausziehen können, die jungen Erwachsenen, ihr Nest verlassen können, hoffentlich mit dem Segen ihrer Bezugspersonen. Man kann sich kein Nest bauen, wenn man das erste Nest nicht wirklich verlassen hat. Ich sehe das immer wieder bei der Gruppenarbeit. Michael Lukas Moeller hat geschrieben, Abschied zu nehmen von den Eltern, sei Thema bis zum letzten Atemzug. Besonders von der Mutter, der wir, ob wir den Gedanken schätzen oder nicht, einmal am nächsten waren. Jede*r von uns hat etwas von den sogenannten Querdenker*innen in sich. Wir sollten sie verstehen, aber ihnen freundlich und sehr bestimmt Grenzen setzen, die auch strafrechtlich relevant sein können. Leider sind auch diejenigen, die Grenzen setzen, die Polizist*innen, nicht immer mit Reife gesegnet, dafür aber mit Macht ausgestattet, mit viel Macht, sodass auf diese das Gleiche anzuwenden ist: Grenzen setzen. Wir alle brauchen Grenzen, weil wir sonst alle leicht ausrasten, spätestens, wenn wir krank sind und Schmerzen haben oder alt und dement sind oder alles in einer Flutkatastrophe verlieren. Wenn wir in solchen Situationen sowohl den kreativen Geist des Spiels und der Offenheit für Überraschungen, Herausforderungen wie den reifen Geist der kühlen Reflexion, der Verzichtbereitschaft, des Humors („Galgenhumor“) und der Bescheidenheit („Ich lebe! Ich habe noch mich und nette Nachbarn sowie unbekannte Freunde!“) mobilisieren können, dann sind wir gut dran. Denn, ohne altbacken oder altklug sein zu wollen, wir wissen: Jede*n hätte es treffen können, und wer mehr oder minder – je nach Glaubensrichtung – am Leben geblieben ist, hilft den anderen.
Womit wir beim dritten Punkt wären, dem transzendenten, spirituellen oder religiösen Bereich. Warum ordne ich die Hilfsbereitschaft unter diesem Punkt ein? Gehört sie nicht auch zum Spiel (zusammen zu spielen macht Spaß und bringt Neues) und zur Reife (weil wir miteinander auskommen müssen, mindestens am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Nachbarschaft)? Ja, unbedingt. Wir vergessen diesen Punkt aber oft. Vergessen oder verheimlichen Angewiesensein und Not, Einsamkeit und Schwäche, Eingeständnisse von leichten und schweren Fehlern und Schuld in unserem Leben und unsere große Angst. „Angst essen Seele auf“, heißt ein hervorragender Film über eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Sich in der Kunst des Lebens üben heißt, seelische Bedürfnisse und spirituelle, religiöse Bedürfnisse anzuerkennen, in mir und in anderen. In allen Menschen. Tiefste Sehnsüchte nach einem Aufgehobensein, jenseits dessen, was ich in der persönlichen Liebe erfahren kann – auch wenn gelegentlich und in wenigen Beziehungen beides zusammenfallen kann. Sehnsucht nach Gutsein, nach Wiedergutsein und Wiedergutmachung. Nach tiefem Trost und Verheißung. Vergebung wünschen wir uns in beiden Richtungen, nach Angstfreiheit und Gerechtigkeit, höherer Gerechtigkeit. Nach Schönheit, Wahrheit und Vertrauen in eine allseits gültige Ethik. Wer traut sich noch so zu denken und zu sprechen in all der Zerrüttung?
Wir lernen es gerade wieder. Überwältigt von Angst und Sorge um unsere Kinder und Kindeskinder sind wir dabei zu lernen, wie wir vernachlässigte Schulfächer wieder einrichten können und auch Erwachsene zur Schule schicken können: eine Lebensschule, in die man freiwillig geht, weil man Lust hat auf Reife und Spiel. Weil man sich das eigene Versagen eingestehen kann. Lust auf Verpflichtung und Vertrauenswürdigkeit. Lust auf humorvolles Erwachen.
Manchmal freilich sind Humor, Lachen und Leichtigkeit nicht da, nicht wahr, nicht angebracht. Dann heißt es hineinzuspringen in den tiefen Brunnen, mit den vielen Namen und am anderen Ende als Verwandelte wieder herauszukommen. Sich beherzt und relativ angstfrei der Verwandlung anheimzugeben: Mein Eindruck ist, wir sind mittendrin.
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