Ist das in Worte zu fassen? Ich fürchte, nein. Ich denke, dass sich Menschen in meinem Bericht wiederfinden können und werden, die Bernie, so ließ er sich am liebsten nennen, ebenfalls erlebt haben. Aber Menschen, die ihn nicht kannten …?
Bernie Roshi (Roshi ist ein Ehrentitel und bedeutet „Alter Lehrer“, wobei das Wort „alt“ für uns nicht unbedingt Ehre ausdrückt; wir würden vielleicht besser sagen: „altehrwürdiger Lehrer“) ist, wie es bei Künstlern üblich ist, nur MIT seinen Werken, seinen „Kindern“, zu verstehen. Meiner Meinung nach. Diese drei geistigen Kinder, seine Projekte, trug er aus, gebar sie und zog sie mit viel Inspiration und ungeheurer Hingabe auf. „Alles ist austragen und gebären“, sagte Rainer Maria Rilke, dessen „weibliche“ Seite, wie es bei Künstlern meist der Fall ist, stark und gut integriert war. Und wie es auch oft der Fall ist, haben die eigenen leiblichen Kinder wohl unter der Zerreißprobe gelitten, der ihr Vater sich aussetzte, den verschiedenen starken inneren Forderungen neben seinen Vaterpflichten gerecht zu werden. Ich hörte Bernie fast in jedem seiner Vorträge, seien sie kurz oder lang gewesen, bedauern, dass er für seine Kinder und seine erste Frau nicht stärker anwesend war. Mich rührte das sehr, weil diese Einsicht oft fehlt, und die Reue nicht ausgedrückt wird. Bernies Talente waren wirklich außerordentlich, Talente „in beiden Gehirnhälften“, der eher analytischen, linearen Gehirnhälfte, die ihn zu einem begabten Mathematiker und Wissenschaftler werden ließ, der eher intuitiven Seite, die sein Interesse an Religionswissenschaften weckte, an Kontemplation und einem dezidiert hingebungsvollen Zen-Weg, der ihn bei zwei japanischen Meistern studieren und praktizieren ließ. Ich erlaube mir, stark zu vereinfachen und zu kürzen, eventuell auch Fehler zu machen bei den biografischen Details. Denn das Thema ist hier nicht Bernie Glassmans Leben, sondern, was ich von ihm lernte. Na ja, ich lernte zum Beispiel, dass Zen-Meister heiraten dürfen, sogar dreimal, und dass das ihrem Ansehen nicht schadet, oder vielleicht hat es Manchen davon abgehalten, sein Schüler oder seine Schülerin zu sein. Ich lernte, dass große Umbrüche im Leben zu großem Heil führen können: Wie war es genau geschehen, dass Bernie Glassman sich von der strikten Befolgung der Tradition abwandte, zum Rebellen wurde, jedenfalls las ich das öfter. Hatte es einen Auslöser dafür gegeben?, würde ich ihn heute fragen.
Als er mich und Reiner Hühner damals in Bonn besuchte, 2011 – wir holten ihn in Mainz ab, von einem Kongress über Buddhismus und Ethik in der Wirtschaft –, bekam ich vor Ehrfurcht meine Zähne nicht auseinander. Ich erinnere mich nicht, ob ich eine relevante Frage gestellt hätte an einen Menschen, dem ich noch nie persönlich gegenübergesessen hatte. Ich glaube, beim Frühstück haben wir über meine Tochter Lisa gesprochen, und er hat mir erzählt, dass seine Tochter Alisa heißt, wobei er das „A“ besonders zu betonen schien. Am kommenden Tag, nachdem wir ihn und seinen persönlichen Assistenten Ari Pliskin zum Bahnhof gefahren hatten, habe ich öfter gedacht, was für eine vertane Chance das gewesen war! Andererseits, ich war erst 2010 zum ersten Mal in Auschwitz gewesen und hatte dort diesen Menschen und Lehrer mehrere Tage lang um mich gehabt. Wobei gerade die Gruppe 2010 sehr groß war, ich glaube, wir waren 150 Teilnehmer*innen aus vielen Ländern. Dennoch: Das Format des Retreats und das Zusammenleben im „Zentrum für Dialog und Gebet“, das Zusammenessen, in kleinen Gruppen am Tisch oder außerhalb des Friedhofs Birkenau, die Busfahrten und die vielen Kreissitzungen brachten es mit sich, dass man immer mal „nah“ an ihm oder Eve Marko Roshi, seiner Partnerin, stand oder saß. Ich glaube, Reiner und ich hatten unsere Gelübde-Feier (Jukai) erst, NACHDEM der hohe Besuch aus Bonn wieder abgereist war. Jedenfalls lernte ich definitiv, wie viel Vertrauen Bernie hatte, sich in unsere Wohnung und unsere Hände zu begeben, und wie ich schon vorher in Erzählungen von Barbara Wegmüller erfahren hatte, war dieser Lehrer daran gewöhnt, rundherum bei seinen Schülerinnen und Schülern in Europa zu leben, während er in Paris, Solingen, Gent, Warschau, Bern … das Dharma der Zen Peacemaker lehrte und weiterentwickelte. Das zu hören, hatte mich sehr fasziniert, denn die Schwelle, zu den Zen Peacemakern zu gehören, war auch für eine zeitweise Geringverdienende wie mich niedrig, und man wollte einander wirklich im Alltag nah kommen.
Als ich mich mit den damaligen Webseiten der Zen Peacemaker befasste, sah ich mit Freude, Befriedigung und Neugier auch die Modelle der fünf Weisheitsenergien, der Gewaltfreien Kommunikation und der Soziokratie. Da ich selber seit fünfzehn oder mehr Jahren auf dem Übungsweg mit GfK bin, Gewaltfreier Kommunikation, konnte mich das nur begeistern. Außerdem fand und finde ich bemerkenswert, dass dieser Lehrer Kontakt mit zwei Menschen aufnahm, die (noch) keinen Zen-Weg gingen, keine höheren Weihen empfangen hatten.
In der kurzen Zeit, in der wir Bernie bei uns zu Hause beherbergen durften (ein Nachmittag und Abend sowie ein Morgen mit Frühstück), erlebte ich einen entspannten, „normalen“ Menschen. Mit Paul Köppler, dem Gründer und Leiter von „Haus Siddharta“ und dem „Waldhaus-Zentrum für Buddhismus und bewusstes Leben“, war ein Interview mit Glassman vereinbart, und so saßen Reiner und ich fasziniert auf unserem roten Sofa und hörten den beiden Dharma-Lehrern zu, wie sie in Frage und Antwort über den Buddha-Weg sprachen. Er hat sich den Gegebenheiten bei uns so gut angepasst, dass ich davon lernen wollte: Das von ihm gewünschte deutsche Essen kam, liebevoll gekocht von unserer Freundin Heike Kranz, auf den Tisch: Sauerkraut, Würstchen, Kartoffeln (Aha, kein vollständiger Vegetarier!), ebenfalls hatte er sich deutsches Bier gewünscht. Abends und morgens früh sahen wir ihn mit seiner geliebten Zigarre auf dem Balkon sitzen und am Computer schreiben. Er fragte mich, wie ich die Blumen versorgen würde, wenn ich länger unterwegs war. Auch Ari Pliskin war kaum zu spüren, hatte offenbar gut geschlafen, obwohl es ausgesprochen heiße Sommertage waren. Normal sein, alltäglich sein, berührbar und empfänglich: Das scheint mir sowohl das Wesen von Zen wie speziell von diesem Zen-Meister zu sein, der leider am 4. November 2018 gestorben ist.
Damals hatte ich nur durch meine Gelübde-Lehrerin Barbara Wegmüller Roshi (damals noch nicht Sensei, was der Begriff für „Dharma-Lehrerin“ ist) gehört, dass sie schon seit einigen Jahren jährlich mit ihrem Lehrer, mit Weggefährtinnen und -gefährten auf die Straßen ging, um dort für ein paar Tage unter Obdachlosen zu leben, mit ihnen zu sprechen, wenn es erwünscht war und passte, aber vor allem, um Zeugnis abzulegen. Ebenso hatte ich Filme und Fotos gesehen, die ihn im Umgang mit verschiedensten Menschen zeigten, ob in der von ihm gegründeten „Greystone Bakery“, auf der Straße oder in Auschwitz-Birkenau. Bernie Glassman hat das Menschsein tief ergründen wollen. Irgendwann stellte er uns die Frage, zu Beginn der Polen-Retreats: „Was tun wir anderen an?“ Darauf sollten wir unser Augenmerk legen.
Ich danke von ganzem Herzen Roshi für die Inspiration und Hingabe, für alles, was Du uns warst. Nächste Woche werde ich noch konkreter werden, wenn ich zu beschreiben versuche, was ich von Dir gelernt habe.
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