Vom 07. bis 14.01.2020 haben drei Frauen eine Pilgerreise nach Süditalien unternommen: Genauer gesagt, war das Ziel ihrer Reise der Internationale Friedhof in Tarsia/Kalabrien, der im Internet nur wenige Anhaltspunkte hergab.
Die politisch rechte Gesinnung des damaligen Ministerpräsidenten und einige andere Gründe, von denen ich im zweiten Teil erzählen werde, legten das Projekt erst einmal auf Eis. Als Zen-Peacemakerin und Koordinatorin von Retreats und Sesshins war ich schon zweimal in Lampedusa und dazwischen auch in Piräus gewesen (nicht von mir organisiert), um das Leben geflüchteter Menschen hautnah zu bezeugen. Inzwischen war ihr Sterben, das meist eher einem Zugrundegehen gleicht, in erschütternd hohen Zahlen relevanter geworden, noch erschütternder. Aber vor allem seit die Kapitänin Claudia Rackete in aller Munde und in den Medien war, dabei besonders in Lampedusa präsent, dachte ich, diese Insel ist eingedeckt mit rettungswilligen Seelen, mit Menschen, die, wie ich, nicht wegschauen können oder wollen. (Wobei ich, und das ist mir wichtig zu betonen, Pilgerreisen als grundsätzlich Freude schenkende, gute Gelegenheiten ansehe, Mitgefühl wirksam werden zu lassen. Ja, Freude. Ich werde später darauf zurückkommen.)
Dann also könnten wir diesen Friedhof suchen, der mir seit Jahren im Kopf herumspukte, denn „Wohin kommen eigentlich die Toten?“, die schon tot an die Ufer und Strände der Inseln gespült werden oder die noch während ihrer Verwahrung in den „Hotspots“ sterben oder die von erschrockenen Fischern in deren Netzen geborgen wurden.
Diese Frage hatte mich schon bewegt, als ich die Fotos in den Nachrichten sah, 2014, Fotos von mit Särgen dicht an dicht gefüllten Hallen, auf denen rote Rosen lagen. Lange konnte man das auf Lampedusa nicht durchhalten, jedem einzelnen Ankömmling einen Sarg, ein Grab zu geben. Ich spreche jetzt von ein paar wenigen Eindrücken von der ersten Zeugnis-Ablegen-Reise nach Lampedusa, im September 2014, einen Monat vor dem Jahrestag des schrecklichen Bootsunglücks ganz nah an der Küste der Insel. Circa 350 Menschen, darunter auch Babys und Kinder, waren am 03.10.2013 im Morgengrauen ertrunken. Ein Fischer, der zufällig draußen auf dem Meer war, rettete mit zwei Freunden Dutzende. Wir sollten ihn kennenlernen und mit ihm sprechen. Die Bürgermeisterin Sgra. Guisi Nicolini hielt bei ihrer Ernennung als Bürgermeisterin von Lampedusa eine bewegende Rede, in der die über das Meer Flüchtenden eine zentrale Rolle einnahmen. (Die Rede wird hier bald zum Download bereitstehen.) Als wir auf dem Friedhof waren, um Gehmeditation zu machen oder still zu sitzen und zu beten, die Grabinschriften zu kontemplieren, konnte man nach einer Weile gut nachvollziehen, wie aufrichtig bemüht Lampedusaner noch zu Beginn – wann immer man den Beginn datiert – gewesen waren, zu dokumentieren, wer in welchem Alter wo im Meer umgekommen war. Sehr berührende Dokumente der Anteilnahme und sozusagen einer umgekehrten Gastfreundschaft waren hier – und sind es sicherlich immer noch – auf den Grabsteinen zu sehen. Doch natürlich würde das ein Ende haben, die Insel ist klein, der Friedhof auch. Es gab Übergänge, Gräber mit mehreren Namen, bis hin zu einem winzigen Feld und einem Holzkreuz. Wenn dieses Holzkreuz sprechen könnte ...
Sie, liebe Leserinnen und Leser, erahnen jetzt schon, wie sich Puzzleteil auf Puzzleteil häufte, wie meine Frage, wohin die Särge eigentlich gebracht würden, unbeantwortet blieben, wie mich die erschütternden Aussagen von jungen geflüchteten Männern in Bonn bewegten, welche immer wieder berichteten, dass Mütter, Tanten, meist in der Nacht, anriefen und nach ihren Söhnen fragten! Wenn sie überhaupt erfuhren, ob ihr Kind noch am Leben war oder nun mit Sicherheit wussten, dass es gestorben war – sie wollten unbedingt erfahren, wo dieser geliebte, vermisste Mensch, ihr Kind, begraben wurde! Die syrischen Freunde, die ich traf, mit manchen von ihnen verband oder verbindet mich Freundschaft, waren erschöpft von diesen Telefonaten oder anderen, auch die wenigen schönen Anlässe erschöpften sie (Geburtstagsfeiern, Hochzeiten), denn sie konnten ja nicht dabei sein.
Im Januar 2020 wurde mir, nach vielen Gesprächen mit offenen, hilfsbereiten (außer einem, in einer Bar in Reggio) Italienern klar, dass diese Fragen – obwohl wir stets unsere Dankbarkeit beteuerten und aufzählten, was die Süditaliener uns aus dem Norden alles abnehmen würden –, dass diese Fragen ein Tabu darstellten.
Erst am vorletzten Tag unserer Abreise würden sich Puzzleteile dessen, was wir erfahren oder beobachtet hatten, in sinnvoller Weise zusammensetzen. Da waren wir inzwischen auf zahlreichen Friedhöfen gewesen und hatten uns umgeschaut. Einer der Friedhofsangestellten wusste etwas zu berichten, das er mir anvertraute. Ein junger Angestellter in der Bar am Hotel nahe Tarsia äußerte eine Fantasie. Und nicht zuletzt die aufklärenden Gespräche rund um den alten und neu geplanten Friedhof in Tarsia: All dies plus ein Artikel im SPIEGEL, der plötzlich auf meinem Handy landete und den ich im gemieteten Auto vorlas, gaben deutliche Hinweise auf das Unaussprechliche: Es gab Massengräber. Sehr wahrscheinlich Massenverbrennungen. Und es gab über zwanzig Friedhöfe in Sizilien, deren Namen wir am Montag, am Tag unserer Abreise hätten bekommen können. Deren Bestimmung war es, einen bestimmten Prozentsatz von toten Flüchtlingskörpern aufzunehmen. Wobei an dem Punkt schon klar war, wo sie begraben würden: Hinter den wunderschönen Grabmälern in Italien, die wie winzige Häuschen aussehen, und auch noch hinter der Reihe der Bettler und Armen.
Ich glaube fest an Trauerrituale in der Gemeinschaft. Man muss sie erlebt haben, selbst wenn sie nachgeholt waren – und ich habe viele nachgeholt, weil bei uns zu Hause nicht getrauert wurde. Ich glaube daran, dass sie den Toten etwas geben und ihren Angehörigen. Dass sie denen etwas geben, die Zeug*innen sind; selbst, wenn sie nur davon hören, berührt werden sie sein. Ferner glaube ich fest an die Kraft der Beziehung, die fast die Qualität einer Person, eines Organismus hat. Das heißt, in dem Trauerakt, in der Trauerzeit, lassen wir zu und geben Raum, dass diese Beziehung sich klärt und reinigt. Vielleicht ist ja auch unsere Beziehung zu Gott, zum Göttlichen, Numinosen (neu?) zu betrachten. Leben wir dieses Leben so, wie es gelebt werden will oder gar soll? Der Tod ist ein machtvoller Heiler, der fast nie gelegen kommt. Er lehrt uns weniger über den Tod, als vielmehr über das Leben. Was ist eigentlich schon längst abgestorben in uns? Und was davon kann oder will ich gehen lassen und was will oder muss neu belebt werden?
Mein Erbarmen mit meinen geliebten Seelenfreundinnen und -freunden, den italienischen Menschen, ist gewachsen. Wie gut, dass wir verdrängen können! Darüber klärte uns die Blumenfrau am letzten Friedhof auf, den wir am Sonntag besuchten, in Reggio Calabria. Oder war es in Messina, und wir hatten den Golf schon überquert? Reporter und Besserwisser gingen ihr gehörig auf die Nerven. Wir beschenkten sie mit unserem „Danklied“ und kauften Blumen.
Der Punkt ist, und ich denke, das erschließt sich aus dem Text, der Fortsetzungen haben wird, wir dürfen Menschenwesen – mit ihnen kenne ich mich am besten aus – (sicherlich auch keine Tiere) nicht einfach verrecken lassen. Das tun wir aber, und wir tun es ohne Not. Wenn man sich einmal auf den Weg begeben hat, die Angst vor bestimmten Manifestationen des Lebens aufgeben zu wollen (Kranke, Alte, Sterbende, Tote: die klassischen Themen im Buddhismus, und ich würde noch hinzuzählen: Arme, Ausgegrenzte, Bettelnde, Fremde), dann führen diese Begegnungen zu tiefen Einsichten und dem Wunsch, Leiden lindern zu wollen, übrigens auch bei uns selber. Womit wir am Anfang wären. Wir lindern das Leiden, indem wir hinschauen. Sehen das Eine Leben. Lassen uns berühren und tun, was das Leben von uns verlangt. Stille Freude kehrt ein.
Kitschig? Probieren Sie es aus, erklären Sie bestimmte Tage oder kleine Reisen zu Pilgertagen. Seien Sie erfinderisch. Wenn wir auf die Geistlichen warten wollen, die Derartiges anbieten, dann können wir lange warten. Ich wollte weder warten noch bitter werden. Sie können mir schreiben oder mich anrufen.
„Unsere Augen waren noch unschuldig“ (aus Davide Enia: Schiffbruch vor Lampedusa).
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