Eine Ära ist zu Ende gegangen, nämlich jene, während der ich mich schlecht gefühlt habe, weil ich den Begriff „Heimat“ in mir nicht verorten konnte. Und das kam so.
An dieser Stelle habe ich ja schon wiederholt meine These ausgeführt, dass der Storch einen Schwächeanfall gehabt haben muss, als er mich dort fallen gelassen hat, wo ich auf die Welt kam. Denn so richtig zu Hause habe ich mich an diesem Ort nie gefühlt – die Berge zu hoch, die Menschen zu kategorisch, die Sprache zu sperrig. Dabei gab es eine Zeit, in der ich mit meiner Mutter darum kämpfte, Dialekt sprechen zu dürfen. Dabei gab es eine Zeit, in der ich stolz auf meine Herkunft war. Dabei gab es eine Zeit, in der ich die Berge schon wegen der Skipisten geliebt habe. Nichtsdestotrotz hatte ich das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Als ich dann umzog, war Heimat für mich meine Familie, Menschen, auch wenn sie dort wohnten, wovor ich geflüchtet war. Noch heute dauert die Fahrt zu meinen Eltern gefühlt länger als die Rückreise. Und das liegt nicht an meinen Erzeugern, sondern daran, dass ich mich ungern von der Geografie einfangen lasse. Dass auf der Strecke eine permanente Geschwindigkeitsbeschränkung eingeführt wurde und ich langsamer fahren MUSS, verstärkt dieses Gefühl noch.
Seit einigen Jahren nun fühle ich mich hier zu Hause, wo ich wohne. Das habe ich mir auch nicht sofort erlaubt – es war halt einfach der Fluchtort. Doch seit ich die Opposition gegen meine Herkunftsregion aufgegeben habe, kann ich ihn als Heimat empfinden. Allerdings muss ich mir selbst natürlich auch die Frage gefallen lassen, woher denn dann dieses Fernweh kommt, das mich quasi permanent quält und das ich momentan zwar beiseiteschiebe, das aber trotzdem unausrottbar scheint. Am Wochenende las ich einen Artikel, der mir all diese Fragen beantwortet und vieles geheilt hat.
Der Philosoph Wilhelm Schmid hat ein Buch über Heimat geschrieben, und weil das ein Thema ist, das zieht, darf er in meiner bevorzugten Wochenzeitung den Heimatbegriff ausdifferenzieren. Er spricht von Heimatlosigkeit, wenn etwas nicht mehr so ist, wie es vertraut war. Und das weckt in mir die Erinnerung, dass meine Ablösung wohl damit begonnen hat, als ich zum ersten Mal in meinem Bestreben, zu helfen, missverstanden wurde. Und daraus massive Nachteile lukriert habe. Nicht wenige bekommen dadurch Hautprobleme, weil die äußere Barriere unseres Körpers auf Dissonanzen zwischen innen und außen reagiert. Davon bin ich glücklicherweise verschont geblieben, abgesehen von der pubertären Akne, die zwar altersbedingt erklärbar ist, vermutlich aber auch diesen Dissonanzen geschuldet ist.
Für Schmid ist Heimat das Basislager des Lebens und erwähnt in diesem Zusammenhang den Wohnraum für die Seele, in dem Menschen sein können, wie sie wollen. Neulich brachte meine Cousine ihren Freund das erste Mal mit in mein Haus, und eine seiner ersten Äußerungen war: „Sehr gemütlich, aber voll.“ Eine Großcousine meinte vor vielen Jahren, dass sie meine Wohnumgebung sehr inspirierend finde, weil man überall etwas sehe, das man anschauen könne. Offensichtlich war das immer schon mein Ding, nämlich aus dem Vollen zu leben. Nein, Scherz. Mir wurde bewusst, dass mein Wohnraum tatsächlich meine Höhle ist, wo es alles gibt, was ich für die Basis meines Daseins brauche. Zugegeben, es könnte etwas weniger sein, und daran arbeite ich ja auch. Doch vieles, was bei mir herumsteht und -hängt, ist für mich von Bedeutung. Nur bedingt gilt das für elektronische Geräte, wobei ich sagen muss: Ein Leben ohne Cinchkabel ist für mich kaum vorstellbar. Und verreisen ohne meinen sonnengelben Lautsprecher ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Wo wir wieder bei Wilhelm Schmid landen. Er schreibt nämlich, dass Heimat auch im Unterwegssein entsteht. Und wenn ich mich an mein Gefühl erinnere, das mich im Inneren eines Fliegers durchflutet, kann ich das absolut unterschreiben. Das Reisen gibt mir nämlich das Gefühl, nicht nur in einer Region, sondern auf der ganzen Welt zu Hause zu sein. Weil ich mich als Teil des Ganzen fühle. Und dazu zählt eben auch, dass ich andere Sprachen höre, mich mit Mentalitäten beschäftigen und lernen darf. Und wenn ich im Flieger sitze, dann bin ich dorthin unterwegs – zum Gefühl, Teil der Welt zu sein. Das ist mir wichtig, und schon alleine deshalb Heimat. Schmid schreibt nämlich, dass Heimat das ist, was eben nicht egal ist. Deshalb plädiert er dafür, das Leben nicht auf eine einzige Haupt- und Herzensheimat zu beschränken, sondern auch in diesem Bereich aus dem Vollen zu schöpfen. Soziale, mentale, räumliche und temporäre Heimaten zu gründen und zu pflegen – das ist es, was ich gefühlt immer schon gemacht habe. Und mich deshalb nicht selten als „komisch“ kategorisiert empfunden habe. Weil man sich eben festzulegen habe. Das genau ist für mich unmöglich, und dank Wilhelm Schmid kann ich diese Baustelle nun auflassen. Und mich dem widmen, was er rät: „Die beste Voraussetzung für eine Heimat in der Beziehung zu anderen ist die Beziehung zu sich selbst, die Heimat sein kann.“
PS: Der Artikel „Heimat ist mehr als ein Ort“ von Wilhelm Schmid ist am 29. April in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen.
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