Es ist leichter, über Schatten zu schreiben, als darüber zu sprechen. Besser wäre noch, ein Gedicht in drei Minuten dazu zu schreiben. Die unterliegen nicht unserer Kontrolle und schon gar nicht unserem Kontrollbedürfnis.
Warum sollten wir den Schatten kontrollieren wollen? Weil wir uns meist für ihn schämen. Andere sehen ihn deutlich, wenn die Sonne scheint, nur wir selbst nicht.
Das Gespür für Schatten kann man entwickeln, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Man könnte auch sagen, es ist die stets andere, dunkle Seite von etwas.
Ich finde, C. G. Jung war genial mit dieser Denk- und Wortschöpfung. Neulich fiel mir ein, wie eine gute Freundin öfter zu sagen pflegte, dass Kinder unter Umständen den Schatten der Eltern leben. Und indem ein Kind das tut, fällt es den Eltern unglaublich schwer, dieses Kind anzunehmen. Sie müssten sich selbst tief und neu sehen, das eigene Selbstbild erweitern. Das kann die Wahl eines Berufs oder Studienfachs sein, einer Lebenspartnerin, was die Eltern oder einen Elternteil befremdet bis abstößt, kränkt und irgendwie entfremdet. Oder der Jugendliche bleibt scheinbar unter seinen Möglichkeiten, eine andere wird früh schwanger und will den Vater des Kindes nicht heiraten. Die Mutter war das Gegenteil der jungen Frau, selbstbeherrscht und klar in ihren Ansichten zu Familienplanung. Jedenfalls schien es so.
Es gibt so vieles, was wir in uns selbst nicht kennen, nicht wahrhaben wollen, ein Hang zu Gewalt, Faulheit oder Schlampigkeit. Erst, als ich bei dem berühmten Trainer Marshall Rosenberg las, wie schlampig er selber war, wie es bei ihm zu Hause aussah, konnte ich nach und nach annehmen, Tochter einer sehr ordentlichen Mutter, dass ich diese Seite in mir nicht abstellen kann. Sie passte und passt nicht zu meiner Liebe zu Zen. Meine Wohnung sieht nicht aus, wie man sich eine Zen-Wohnung vorstellt, sie ist weder minimalistisch noch in dezenten Farben gehalten, zurückhaltend und zurückgenommen, wie Zen-Menschen es auch sind oder danach streben. Es hat lange gedauert, frei darüber zu denken, dies auszusprechen und es anzunehmen. Vielleicht lebe ich aber auch den Schatten von Zen. Ich glaube nämlich, dass buchstäblich alles, jede Gruppe, jede Sangha, jedes edle Bemühen, einen Schatten hat. Deshalb ist es aus meiner Sicht so wichtig, soziale Beziehungen zu sehr unterschiedlichen Menschen über der Hingabe an einen spirituellen Weg nicht zu vernachlässigen. Wenn wir einer Sangha angehören, dann üben wir dort, wirklich mit Menschen auszukommen. Oder wir bemühen uns ganz bewusst, den spirituell uninteressierten Menschen von tieferen Freundschaften nicht auszuschließen.
Denn diese Bekanntschaften und oft schwierigen Freundschaften zeigen uns, was wir noch nicht von uns kennen und zu uns nehmen wollen: unsere Schattenseiten. Was wir ablehnen, oft mit großer Vehemenz, ist ja auch, was wir in uns selbst und an anderen bekämpfen sowie was andere an uns bekämpfen, wenn wir ihr Selbstbild bedrohen. Meist läuft das völlig unbewusst ab.
Ohne diese Schattenzonen, ohne die Ränder unseres Bewusstseins auszuloten, wären wir überheblich und unglaubwürdig. Wir sind ja so viel mehr als wir denken und annehmen. Wir könnten uns ein ganz anderes Leben zumuten, denn im Schatten liegen auch ungeahnte Möglichkeiten unseres Seins. Eine größere Güte, als wir ahnen, ein Verlangen nach Verbindung und ausgedrücktem Mitgefühl, eine Sehnsucht nach einem ernsten, hingebungsvollen Leben, in dem wir jedoch die Niederungen nicht verleugnen.
Vielleicht ist DAS mit vollem Menschsein gemeint: diese Furchtlosigkeit vor sich selbst. Psychologinnen, Humanisten, Lebenskünstler sprechen von Integrität, Ganzheit, Reife. Buddha nennt es den Weg zum Erwachen.
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