Wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird – was ist Erleuchtung? Spurensuche nach einem Versprechen.
Das Ziel jeder Spiritualität ist „Erleuchtung“, „Erwachen“ oder „Erlösung“. Doch jede Religion, jeder Kult versteht darunter etwas anderes. Auch die verschiedenen buddhistischen Traditionen scheinen sich nicht einig, was „Erleuchtung“ sein könnte. Oder ist am Ende doch immer das Gleiche gemeint, es wird lediglich unterschiedlich beschrieben? Wir schauen nach.
Hinter den drei oft synonym verwendeten Begriffen „Erleuchtung“, „Erwachen“ und „Erlösung“ stehen ähnliche Hoffnungen: die Erwartung, der Leidhaftigkeit der eigenen Existenz zu entrinnen, lebensumgestaltender Offenbarung teilhaftig zu werden oder den Lebenssinn zu erkennen und Einsicht in die letzte Realität der Dinge zu erhalten. Es geht um Heil und um Vollkommenheit und immer um Veränderung. Um ein Heraustreten aus der aktuellen Situation.
Erleuchtung ist mit Erkenntnis gleichzusetzen.
Will man aber präzise sein, zeigt sich schnell, dass der Begriff der „Erlösung“, der uns in den abrahamitischen Religionen, dem Judentum, Christentum und Islam, begegnet, von der „Erleuchtung“ beziehungsweise vom „Erwachen“ im Buddhismus deutlich abzugrenzen ist. Ebenso meinen die Begriffe „Erleuchtung“ und „Erwachen“ tatsächlich etwas Unterschiedliches. Das entsprechende Sanskrit-Wort „bodhi“ wurde im Westen zwar im Rückgriff auf die eigene abendländische Tradition mit „Erleuchtung“ übersetzt und hat sich so etablieren können, aber „bodhi“ ist „Erwachen“. Das ist etwas völlig anderes als „Erleuchtung“. Erleuchtung ist mit Erkenntnis gleichzusetzen. Erwachen ist eine die gesamte Existenz umfassende Verwandlung, wie das Werden eines Schmetterlings aus einer Raupe.
So finden wir in der europäischen Geistesgeschichte das Lichtmotiv erstmals beim antiken Philosophengiganten Platon (428/427–348/347 v. u. Z.). Erleuchtung werde plötzlich wie ein Feuer entfacht. Man reibe Benennungen, Erklärungen, Ansichten und Wahrnehmungen aneinander und prüfe sie, dann könnten Einsicht und Verständnis über jeden Gegenstand aufleuchten. Hier geht es also um intellektuelle Auseinandersetzung.
Das Frühchristentum verwendete ebenfalls Lichtmetaphorik, die mit Erkenntnis einhergeht. Aber spätestens mit dem Kirchenlehrer Augustinus von Hippo (354–430 n. u. Z.) war der zentrale Begriff die „Erlösung“. Durch den stellvertretenen Opfertod Jesu Christi erlangt man Erlösung von den Strafen Gottes für das eigene sündhafte Handeln, ja das eigene sündhafte Wesen. Die christliche Mystik, die Erleuchtungsvorstellungen kennt, ist heute weitgehend zurückgedrängt. Beim christlichen Mystiker Meister Eckhart (1260–1328 n. u. Z.) etwa ist das Ziel die Gotteserkenntnis durch auf Erfahrung gestützte Einsicht in die göttliche Gesamtwirklichkeit, in das „Urbild“, in das Eine.
Und auch in der jüdischen Mystik, ebenso wie im Koran finden wir Entsprechungen zur Lichtmetaphorik. Ähnlich wie im Christentum ohne eigenes zugespitztes Erleuchtungskonzept. Erlösung findet man bei den beiden Religionen an anderer Stelle. Die jüdische Vorstellung ist durchweg praktischer Natur: Man erwartet, nach dem Erscheinen des Messias in einer neuen Welt zu erwachen. Maimonides (1138–1204 n. u. Z.), der wohl bedeutendste jüdische Denker, beschreibt das so: „Auch dann wird es Reiche und Arme, Starke und Schwache geben. Aber es wird eine Zeit sein, in der die Zahl der Weisen wächst, in der es keinen Krieg mehr gibt (...) Güte und Weisheit werden vorherrschen.“ Im Koran ist das arabische Wort für Licht eine Metapher für das Erkennen von Wahrheit und hat ebenfalls nichts mit der Erlösungsvorstellung des Islam zu tun. Die gängige Annahme ist, dass man Eingang in ein Paradies allein dadurch erhält, dass man Muslim ist.
Der Mensch erwacht zur Freiheit: Er sieht die Dinge, wie sie wirklich sind.
Der Buddhismus geht andere Wege: Wir hören im traditionellen Theravada oft folgende Deutung von Erwachen: Erwachen ist Nirvana (wörtlich „verwehen“). Das Ausscheiden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, dem Samsara (wörtlich „beständiges Wandern“). Es ist gekennzeichnet durch die Überwindung der drei Wurzeln des Unheilsamen: Gier, Hass und Verblendung. Es geht um die Freiheit von der Determiniertheit durch das Karma. Ein Erwachter hat sein letztes von unzähligen Leben gelebt. Nach seinem Tod wird er ins Parinirvana, wörtlich das völlige Nirvana, ein nachtodlicher Zustand, eingehen. Er wird vollkommen erlöschen.
Der Prozess des Erwachens vollzieht sich im Theravada in acht Stufen zu vier Paaren. Das bedingt, dass es vier verschiedene Personengruppen auf dem Weg zum Erwachen gibt: den Stromeingetretenen, den Einmalwiederkehrenden, den Nichtwiederkehrer und den Heiligen. Sie alle haben eine bestimmte Qualität im Prozess zum Erwachen erreicht. Diese sind genauestens definiert. So hat etwa der Stromeingetretene drei der zehn Fesseln abgelegt. Das sind erstens Persönlichkeitsglaube, das heißt, ein erstes Loslassen des Selbst durch erste Einsichten in „Anatta“. Anatta bedeutet, dass kein Wesenskern existiert, das „Ich“ oder „Seele“ genannt werden könnte. Zweitens wird das Festhalten an Regeln und Riten überwunden sowie drittens der Zweifel, insbesondere an Buddha, Dharma und Sangha.
Das Mahayana legt einen anderen, weniger praktischen, eher mystischen Schwerpunkt. D. T. Suzuki (1870–1966), ein japanischer Autor, der als einer der international bedeutendsten Theoretiker des Zen-Buddhismus gilt, schreibt: „Das Ziel des Zen ist das Erreichen eines neuen Blickpunkts für die Einsicht in das Wesen der Welt. Wer gewohnt ist, nach den Regeln des Dualismus logisch zu denken, muss sich von diesen Regeln frei machen (...)“ Gemeint ist damit die Überwindung einer dualistischen Sichtweise: Hier bin ich, dort ist alles andere. Und Anagarika Govinda, ein deutscher Religionswissenschaftler des letzten Jahrhunderts, der zum Vajrayana konvertierte, schreibt: Ziel sei, „sich seiner seit je bestehenden, unteilbaren und ungeteilten Ganzheit bewusst zu werden (...) Die Vollkommen-Erleuchteten sind jene, die zur vollkommenen Ganzheit erwacht sind.“
Wobei angemerkt werden muss, dass die Idee von der Nichtdualität der Wirklichkeit bereits im Theravada angelegt ist. Buddhaghosa, ein bedeutender Gelehrter des Theravada-Buddhismus aus dem 4. Jahrhundert, meint dazu in seinem Hauptwerk Visuddhimagga „Weg der Reinheit“, dass ein Bewusstsein, das entweder noch nicht oder nicht mehr in die Zweiheit von Subjekt und Objekt zerspalten ist, identisch mit Nirvana sei.
Die heutigen Zen-Schulen haben zum Thema Erwachen und zum Prozess des Erwachens ihre eigenen Termini. Sie unterscheiden zwischen „Satori“ und „Kensho“. Während „Satori“ als das ultimatives Erwachen gilt, das in der Regel nach langjähriger meditativer Vorbereitungszeit blitzartig auftritt und die Schau des wahren Wesens der Wirklichkeit ermöglicht, wird Kensho das „kleine Erwachen“ genannt, das einen zwar kurzen, aber eindrücklichen Blick hinter den Vorhang der Illusionen auf die Wirklichkeit ermöglicht.
Ein Erwachter ist sich über seine Gefühle, Reaktionen und alle anderen Inhalte seines Geistes jederzeit bewusst.
Stephan Batchelor, der mit seiner Arbeit versucht, die frühbuddhistische Lehre jenseits des Theravada zu rekonstruieren, und als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Denker des westlichen Buddhismus gilt, schreibt, als vollständig erwacht betrachten könne sich jemand, der die zwölf Aspekte der Vier Edlen Wahrheiten völlig verstanden habe. Diese zwölf Aspekte sind eine Erläuterung zu den Vier Edlen Wahrheiten, die Kernlehre des heutigen Buddhismus. Sie beginnen mit der Feststellung „Dies ist das Leiden“, gehen über Schritt fünf und sieben „Das Leiden muss vollständig erkannt werden“ und „Seine Zerstörung muss verwirklicht werden“ und münden in den zwölften Aspekt: „Der Weg, der zu seiner Zerstörung führt, ist beschritten worden“. Er schlägt vor, Erwachen nicht als „Wahrheiten“ zu begreifen, sondern als „Aufgaben“. Und so wird die buddhistische Grunddoktrin der Vier Edlen Wahrheiten bei Batchelor zu den Vier Aufgaben.
David R. Loy, US-amerikanischer Philosoph, Autor und Zen-Buddhist, hat sich völlig der Philosophie der Nichtdualität der Wirklichkeit verschrieben. Diese lässt sich sogar neurologisch beschreiben: „Während mystischer Erfahrungen [verschmelzen] die Repräsentationen von Innen- und Außenwelt miteinander (…), weil es zu einer großräumigen Synchronisierung der EEG-Wellen im Gamma-Bereich kommt“, so der Psychologe und Meditationsforscher Ulrich Ott. Loy führt aus, dass sich aus der Erfahrung der Einheit von Subjekt und Objekt eine neue altruistische Ethik ergäbe: „Wenn ich danach strebe, ‚meine Schäfchen ins Trockene zu bringen‘, dann wird die Förderung meines Eigennutzes zu meinem Lebenssinn. Ist mein persönliches Wohl aber gar nicht vom Wohl anderer zu trennen, dann dürfte eine derartige Haltung auf Verblendung beruhen.“ Batchelor sieht dies ähnlich: Nicht die Ethik ist Voraussetzung, um Erwachen zu erlangen, Erwachen versetzt mich erst in die Lage, ethisch zu handeln.
Für Thich Nhat Hanh, vietnamesischer Zen-Mönch und Friedensaktivist, bedeutet das Praktizieren von Meditation bereits Erwachen, und Bernard Glassman, amerikanischer Zen-Meister und Gründer des Zen-Peacemaker-Ordens, ist der Überzeugung, dass man meditiert, weil man erwacht sei. Diese Vorstellung geht auf Dogen Zenji (1200–1253), der als der erste japanische Patriarch des sogenannten Soto-Zen gilt, zurück: Man kehre lediglich zu dem Zustand heim, der in jedem Wesen angelegt sei.
Über das Erwachen von Buddha selbst heißt es im Pali-Kanon, dass er vom Wahn erlöst wurde: „Also erkennend, also sehend ward da mein Gemüt erlöst vom Wunscheswahn, erlöst vom Daseinswahn, erlöst vom Nichtwissenswahn. (...) das Nichtwissen zerteilt, das Wissen gewonnen, das Dunkel zerteilt, das Licht gewonnen (...)“
Johannes Bronkhorst, ein niederländischer Indologe und Spezialist für den frühen Buddhismus, identifiziert zwei wesentliche Elemente, die er auf den historischen Buddha zurückführt. Erstens ist dies die Lehre von Anatta und zweitens die Lehre von der Auflösung von Dukkha. Er erkennt die Vier Edlen Wahrheiten als authentisch an, wenn auch nicht in der Abfolge, wie wir sie heute kennen. Diese seien laut Bronkhorst Ergebnis späterer scholastischer Bemühungen, die Aussagen Gautamas zu systematisieren. Die Einsicht von Anatta wurde einerseits benötigt, um die Sorge um immerwährende Wiedergeburten zu überwinden und andererseits die Ich-Schranken zu durchdringen, um eine nichtdualistische Sichtweise zu erlangen.
Geistestraining führt nicht nur zur Überwindung der abhängig entstehenden, automatischen Reaktionen, sondern unterstützt das Erkennen der nichtdualistischen Wirklichkeit.
Katja Triplett, Religionswissenschaftlerin an der Uni Göttingen, schreibt: „Der ‚normale‘ Mensch (zu Zeiten Gautamas) wähnt sich in einem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten, in den er durch die illusionäre Annahme verstrickt ist, er hätte ein substanzhaftes Selbst (...) Diese Illusion gleicht einem Traum oder einem Schlummer, aus dem er durch die Einsicht in Anatta – durch eifrige Übung oder auch durch plötzliche Eingebung – erwacht und seine wahre Lage versteht. Der erwachte Mensch ist durch dieses neue Wissen in dem Moment von dem leidvollen Zustand befreit oder ‚erlöst‘.“
Das erinnert an die Strategie des antiken griechischen Philosophen Epikur (um 341–271/270 v. u. Z.), der als eines der Probleme des Menschen, die ihn daran hindern, glücklich zu sein, seine Angst vor den Göttern identifiziert. Um dieses zu überwinden, empfiehlt er einen Perspektivenwechsel: eine radikale Änderung der kontextuellen Grundannahme. Er meint, die Götter kümmere das Schicksal der Menschen nicht. Sie greifen nicht in das Weltgeschehen ein, und man müsse ihren Zorn deshalb nicht fürchten. Für Epikur war die Vorstellung, Götter würden sich in das menschliche Leben einmischen, Aberglaube. Erleuchtung im epikureischen Sinne war die Korrektur einer falschen Annahme, die Leid erzeugt. Sowohl bei der Lehre von Anatta als auch bei der epikureischen aufklärerischen Haltung handelt es sich um einen Perspektivenwechsel. Man blickt von einem neuen Standpunkt aus auf die Wirklichkeit. So werden die Voraussetzungen der vorherigen sorgebereitenden Sachlage eliminiert.
Die Lehre von der Auflösung von Dukkha trägt zunächst vor, dass das gesamte Leben Dukkha sei. Dukkha wird im Westen gern unpräzise mit „Leiden“ übersetzt (engl. „Suffering“), meint aber deutlich umfassendere, unerwünschte Daseinserfahrungen. Dukkha ist erlebte Unfreiheit durch das unkontrollierbare Entstehen von Emotionen und die daraus folgenden Handlungen – die Erfahrung, diesen Emotionen ausgeliefert zu sein.
Samsara ist in diesem Sinne nicht die Kette der Wiedergeburten in Form einer wie auch immer gearteten Reinkarnation, sondern die Erfahrung des abhängigen Wiederwerdens der Augenblicke in der jetzigen Existenz. Ein Erwachter ist sich über seine Gefühle, Reaktionen und alle anderen Inhalte seines Geistes jederzeit bewusst. Damit ist er nicht mehr Abhängiger seiner Befindlichkeiten und daraus resultierender Handlungen. Die Emotionen werden nicht abgeschaltet, sondern der Erwachte wird in die Lage versetzt, seine Reaktionen zu kontrollieren.
Aber – und das ist eine Erkenntnis aus der Praxis – mit fortschreitender Routine gehen ebenso die verwirrenden Emotionen selbst zurück. Die Erfahrung von Anatta wiederum hilft, die Ich-Schranken zu überwinden und – wie es im Buddhismus heißt – „die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind“. Es entsteht eine Wechselwirkung: Die Erfahrung, über kein festes Selbst zu verfügen, unterstützt den Prozess, Dukkha zu bewältigen, sowie eine nichtdualistische Sicht auf die Dinge zu erfahren. Geistestraining wiederum führt nicht nur zur Überwindung der abhängig entstehenden, automatischen Reaktionen, sondern unterstützt ebenso das Erkennen der nichtdualistischen Wirklichkeit. Dies zusammen ist Erwachen im buddhistischen Sinne. Der Mensch erwacht zur Freiheit. Eine Freiheit, die keine religiösen Elemente mehr aufweist.
Eine echte Parallele zu den abrahamitischen Glaubenslehren und anderen Religionen und Kulten gibt es nicht. Schauen wir genauer hin, entdecken wir aber Ähnlichkeiten. Die im Christentum beschriebene mystische Vereinigung, die „Unio mystica“ ist ein Beispiel. Sie wird als Vereinigung zwischen dem Individuum und Gott beziehungsweise das sich Bewusstwerden einer ursprünglichen Einheit mit einem nicht näher bezeichneten Urgrund, einem Ur-Einen beschrieben. An dieser Stelle finden wir ebenso die Überwindung einer dualistischen Sichtweise.
Da religiöses Erleben nie kultur- oder zeitunabhängig ist, wird diese Erfahrung unterschiedlich gedeutet. Was aber nicht heißt, dass die vollzogene mystische Schau nichts Kultur- und Zeitunabhängiges aufwiese. Das zeigen etwa die neurologischen Messungen, von denen Ulrich Ott schreibt. In den Gehirnen aller mystisch Schauenden vollzieht sich Gleiches. Dieses Erleben deutet jeder Schauende entsprechend seines Bezugssystes dann aber anders: der christliche Mystiker als Vereinigung mit Gott, der Buddhist als Erfahrung von Anatta.
Am Ende ist beides bedeutsam: die meditative Praxis und die intellektuelle Auseinandersetzung. So will etwa Anatta sowohl intellektuell erkannt als auch meditativ durchdrungen werden. Hier geben sich Platon und Buddha die Hand.
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