Eigentlich heißt es im Buddhismus nicht Tugend, sondern Vollkommenheit, und außerdem ist Tugend vielleicht nicht der treffende Begriff, sonst hätte man ihn ja gleich nehmen können. Mein Sprachgefühl und Menschenverstand sagen mir, nimm trotzdem „Tugend“, schließlich willst du gehört und verstanden werden.
„Geben“ oder „Gebefreudigkeit“ (könnte man nicht einfach Freigiebigkeit sagen?) ist etwas Universales, Hochherziges, Großzügiges. Wir können festhalten, dass Angst und diese Tugend einfach nicht zusammenpassen. Einmal schien es mir so – ich dachte Wochen, ja Monate darüber nach –, als sei Geben ein Lebensgesetz. Der Säugling zum Beispiel gibt vollkommenes Vertrauen, hält nichts zurück – das kommt alles später – und ruft damit meist – leider nicht immer – ein ebenso freudiges Geben hervor. Die Natur ist verschwenderisch, wird richtig gesagt, sie setzt auf Nummer sicher, gibt lieber ein paar Hundert Samen zu viel, bevor sie das Risiko einginge, am Ende würde etwas nicht anwachsen. Wer blühende Obstbäume betrachtet und später fruchttragende, kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass ein Gesetz vorsehen würde, an jedem Zweig dürften etwa nur neun Äpfel heranreifen. Also sollen wir geben, offenlegen, offenbaren, zeigen, teilen, Hände reichen. Auch symbolische Handlungen können ein Geben, für jemanden Fürsprecher sein, Ansprachen halten bei Feiern, ohne sich zu zieren, Raum für Aussprachen kreieren, damit Räume voller Wärme und Wohlwollen, Witz und Wunder entstehen.
Ja, Wunder. Ich verstehe nicht, wie ich morgens Angst und eine Stunde später Geborgenheit und Freude empfinden kann. Wie die Nacht auf den Tag folgt und das Alter auf die reifen Jahre. Hingeben sollen wir uns, unseren Eigenwillen, an diese natürlichen Wandelprozesse. Was ist Hingeben anderes als ein Geben, ein Seinlassen, auch sich selber sein lassen, was ist, sein und gelten lassen.
Nein. Neun Äpfel, 1,50 Meter Abstandsregel, Leben nach der äußeren Uhr passen nicht dazu. Mal sehen, wann ich mich das nächste Mal auf den Flow des Tages einstelle, die Uhr auf dem Nachttisch lasse und Zeit verschenke.
Weitere Beiträge von Monika Winkelmann finden Sie hier.