In der vergangenen Woche schrieb ich schon zu dem so einfach scheinenden Buch „Choosing Compassion“ von Anam Thubten, das leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Wer von euch Englisch lesen kann, wird nicht enttäuscht werden, soviel sei gesagt.
Doch nun zum Thema meines heutigen Mini-Essays: Mitgefühl wählen. Da steckt natürlich drin, dass wir eine Wahl haben, und diesen Gedanken durchzuspielen und ihn zu trainieren, finde ich genial. Das ganze Gebäude buddhistischen Geistestrainings beruht auf dieser Annahme: Ich erkenne, dass ich Leiden erschaffe. Ich erkenne, wie ich Leiden erschaffe. Ich erkenne, wie ich uns vom Leiden befreien kann, und entscheide mich dafür.
Nun mag jemand denken: Was ist neu daran? Neu sind, aus meiner Sicht, Leichtigkeit, tiefe Menschlichkeit und vielleicht eine Art von Zärtlichkeit, mit der Anam Thubten uns seine Erkenntnisse präsentiert: durchaus streng, im Sinne von konsequent, aber nicht mit dem moralischen Zeigefinger, nie besserwisserisch, Beschämung und Abstand auslösend. Er appelliert ständig an unser gutes Herz, unsere wahre Natur, ohne dies auszusprechen. Wie der beste Pädagoge aller Zeiten. Der Kern ist, wie ich schon in der letzten Woche schrieb, unser inneres Gespräch wahrzunehmen und damit seine Realität anzuerkennen. Solange wir glauben, wir seien in Wahrheit jemand anderes, nicht (mehr) so primitiv, gemein, in Endlosschleifen quälender und peinlicher Denkfiguren gefangen – „wenn sie nur ...“, „wenn ich nur ...“, „wenn die Realität nur ...“ –, ständig urteilend, verurteilend, vergleichend, quengelnd, solange wir das glauben, drücken wir uns vor dem Wählen. Wir sind dann nicht in der Gegenwart, nicht bei dem, was ist, und meist auch nicht bei unseren höheren Zielen. Das Heilsame ist, ich nehme dieses Theater öfter wahr, und nicht nur beim Meditieren. Ich meditiere öfter als früher weiter, wenn ich Bahn fahre, wie gestern, oder spazieren gehe. In einer entspannten Grundhaltung, die neugierig und offen ist. Und neugierig und offen müssen wir wohl sein, wenn wir Wahlfreiheit haben wollen, oder? Wenn wir Freude daran haben, unsere Persönlichkeit zu entwickeln, reifer zu werden, wenn wir uns überflüssig machen können, statt uns für unersetzlich zu halten.
Mich quälte ein Thema wieder einmal, bei dem es um eine tiefe Enttäuschung über einen wichtigen Menschen und dessen Verhalten mir gegenüber geht. Ich sage bewusst „wieder einmal“, denn es war ein Dauerbrenner. Nun sage ich bewusst „war“, in der Vergangenheit, denn seit vorgestern wähle ich. Als das Dramastück wieder beginnen wollte, der Vorhang war schon aufgegangen, habe ich das Theater verlassen und bin ins Freie gegangen. Jemand aus mir hat gesprochen und sanft gesagt: Versuch’s doch mal mit Mitgefühl. Das klingt jetzt etwas frivol, aber das war es ganz und gar nicht. Denn ich spürte die Kraft des Wählens. Ich fühlte, ich habe nur diesen Moment. Ich setzte alles auf eine Karte und wählte: Mitgefühl.
Es war wie ein Gelübde, das von allein zu mir kam und Zuflucht suchte. Ich öffnete die Tür.
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