Erwartungen, keine haben - Lange Zeit habe ich mich geärgert, wenn es nun auch wieder im Buddhismus hieß, wir sollten keine Erwartungen haben, dann würden wir nicht enttäuscht werden.
In meinen zwanziger Jahren - ich bin 67 - galt man als besonders fortschrittlich, wenn man dies als Antwort von sich gab: Du hast einfach wieder Erwartungen gehabt! Dieser Satz war das Totschlag-Argument, weil es eben kein Argument war, sondern eine billige, belehrende Antwort auf die Freundin, die ihre Traurigkeit oder Enttäuschung über eine Handlung oder ausgebliebene Handlung des Freundes oder auch der Freundin zum Ausdruck brachte.
Auch die Gestalttherapie tat sich hier hervor, in meinen Dreißigern, Probleme waren grundsätzlich die eigenen, nie war der oder die Andere beteiligt oder gar zu kritisieren. Man hatte bei sich zu gucken und fertig. Schwierige Dynamiken, mageres Kommunikationsverhalten, Manipulation durch Schweigen und Sich-entziehen... das alles kam erst später auf. Zum Glück. Zum Glück haben wir von Friedrich von Thun das Vier-Ohren-Modell gelernt, von Michael Lukas Möller über Zwiegespräche, Familien- und Systemaufstellungen zeigten uns, wieviel sich uns averbal mitteilt, und wir erfuhren, dass und wie langwierig wir durch Schwüre, die wir oft früh abgelegt haben, und Glaubenssätze geprägt sind, die wir nach und nach durch konstruktivere ersetzten.
Ich entwickelte mich zu einer, die zu ihren Erwarten stehen wollte, d.h. sie aufdecken und je nachdem, auch kommunizierte. Natürlich hat jeder Mensch Erwartungen, dachte ich, er ist sich nur entweder nicht bewußt oder er ist sich bewußt, möchte sie aber geheim halten. Zum Beispiel ging ich soweit zu behaupten, dass auch die, die keine Erwartungen zu haben scheint, ja doch zumindest die Erwartung hat, dass Erwartungen zu haben schlecht ist und keine zu haben, das Ziel. Manchmal vermutete ich Heuchelei und ein heimliches Sich-Messen, wer weniger Erwartungen hat. Dabei konkurrierte ich darum, wer mehr hat, nämlich mehr Einsicht.
Im Verlaufe von wenigen Monaten sind mir nun Erwartungen abhanden gekommen. Erst bemerkte ich es gar nicht, fühlte mich nur, nach einigen Wochen heftiger emotionaler Schmerzen, wie befreit. Irgendwie glücklicher, ausgeglichener, mehr bei mir. Einsamkeit konnte ich besser ertragen, suchte sie sogar mehr. Bis ich erkannte, ich hatte keine Erwartungen mehr, ich muß sie in diesen schmerzhaften Wochen losgelassen haben. Wie war das möglich?
Da ich praktizierende Zen-Buddhistin bin, übe ich fast täglich, sitze, wie wir sagen, und verbinde mich mit meinem höchsten Potential, dem Bodhisatttva-Ideal, durch das Chanten der Vier Großen Gelübde und einiger anderer Gelübde. Diese sind nicht als Schwüre zu verstehen, sondern als Selbstverpflichtungen, als ideale Entwürfe von uns selbst. Man macht es immer wieder, während langer Retreats auch mehrmals am Tag. Ich kann nur sagen, dass diese Saat, oder ein Teil der kostbaren Pflanzen, in mir unvermittelt aufgegangen ist. Meine Angst, verlassen zu werden, aus der sich die meisten Erwartungen mühelos ergaben, war wie weggeblasen. Ich bin die beste Mutter meiner Selbst geworden und brauche keine andere mehr. Das heisst, ich bin auch unabhängig von meiner realen Mutter geworden, die noch lebt. Sie ist 90 Jahre alt, und wir hatten überwiegend ein sehr schwieriges Verhältnis zueinander, seit einigen Jahren jedoch, besonders seit ganz Kurzem, ist das Verhältnis ausgezeichnet geworden. Meine Mutter darf sein, wie sie ist, ich liebe sie.
Erwartungen verstellen uns den Blick auf die Freiheit des Anderen, die oder der zu sein, der er ist, in dem Moment. Wir stellen damit einen kleinen oder größeren Block in den Strom des Lebens. Das heisst NICHT, das alles unverbindlich wird, das fürchtete ich nämlich. Das Gegenteil geschieht. Ich lasse mich frei und die anderen, und weil ich nichts erwarte, bin ich zu Tränen gerührt, wenn etwas freiwillig geschenkt wird: Eine Email-Antwort mitten aus den Familienferien eines guten Freundes. Ein Anruf einer Person, die ein schwieriges Thema anpackt, das ich schon aufgegeben hatte.
Erwartungen aufgeben heisst, die Struktur von Erwartungenhaben verstehen. Es ist etwas wesentlich Feineres und Weitreichenderes, als mir bewußt war.
Denn auch die Erwartungen an das Leben gehören dazu. Wir ersehnen, den Blick des ganz jungen Kindes wieder zu haben, den Blick des Nicht-Wissens. Den Tag neu zu sehen, ganz frisch und glänzend, unabhängig davon, ob es regnet oder ob die Sonne scheint. Den Anderen, die Partnerin, das Kind, den Nachbarn neugierig zu sehen, wie nach langer Abwesenheit, das Neue nicht erwartend, aber begrüßend. Das Neue nicht vom anderen, vom Leben erwartend, sondern von sich selber. Außerdem IST täglich alles neu, weil sich alles wandelt.
Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie sehr die Sache im Titel mit Akzeptanz, Geduld, Heiterkeit, Selbstgenügsamkeit zu tun hat und meiner täglichen Praxis.
Die Praxis hat nichts mit Moral zu tun, das dachte ich manchmal. Nein, die Praxis hat mit dem schlichten "Wenn dies - dann das" zu tun, das heisst, ich setze ständig bestimmte Samen in den Grund meiner Seele (ich weiß, Seele ist völlig unbuddhistisch), und die gehen einfach auf. Ich säe und ernte, ernte und säe. So einfach ist das. Und wenn wir dann noch dazu nehmen, dass wir selber und alles, unsere Praxis also auch, leer und nichtig ist, dann wird es erst richtig interessant. Denn ich sitze ja nicht, um keine Erwartungen mehr zu haben, sondern um zu sitzen und den Wesen zu dienen.
Hört sich das alles verschwurbelt an? Ich hoffe nicht. Denn ich sehe ja gerade ein, dass jedes der acht Paramitas gleich wichtig ist, geübt zu werden, und dann, nach langem Üben, sich plötzlich eines erschließen kann. Aber alle sind gleich wichtig. An mein Schreiben habe ich auch keine Erwartungen mehr. Ist vielleicht auch besser. Ich wünsche Euch eine inspirierende Woche mit ausreichend kühlen Temperaturen und einen Kühlen Kopf.
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