Ein Spruch kommt mir auf Facebook immer wieder unter: „Wenn die Vergangenheit anruft, geh' nicht dran.“ Doch eigensinnig wie ich bin, missachte ich diesen Rat und hebe ab. Heute bin ich um eine angenehme Erfahrung reicher.
Vor Jahren bin ich mit meinem kürzlich verstorbenen Ex ins KZ Mauthausen gefahren. Das ist mir auf der Fahrt zu J.'s Begräbnis eingefallen, weil ich ein eigenartiges Ziehen in meiner Magengrube verspürt habe. Das könnte natürlich auch auf die Tatsache zurück zu führen gewesen sein, dass ich nur vier Nusskekse dort geparkt hatte. Doch weniger praktisch gedacht, war ich einfach unsicher, was mich erwarten würde. Wenn ich wirklichwirklichwirklich gewollt hätte, wäre es mir bestimmt möglich gewesen, mit ihm Kontakt aufzunehmen und ihm nicht erst einen Kuss ins offene Grab nachzuschicken. Ein wenig klopfte auch das schlechte Gewissen gegen meine Magenwände.
Doch umgekehrt gilt das natürlich auch. Immerhin wusste er, dass ich „Voll Fünfzig“ geschrieben hatte und einen Freund mit der Beschaffung beauftragt. Seine letzte Freundin erzählte mir, dass er während des Lesens immer wieder gesagt habe, dass ich dieses oder jenes Verhaltens schon vor 30 Jahren an den Tag gelegt hätte. So sehr verändert man sich also doch nicht, selbst wenn man sich noch so bemüht. Und ihm nehme ich es auch nicht übel, denn bei all dem, was uns schlussendlich trennte, gab es doch eine emotionale Stabilität, die ich nach ihm bei Männern vermisst habe. Das fiel mir ein, während ich bei der Verabschiedung auf sein Foto schaue. Seine Freundin erzählt mir, dass es während des ersten gemeinsamen Urlaubs der beiden in Griechenland entstanden ist. Und ich lächelte, weil es mir zeigte, dass er zufrieden war in diesem Moment. Mit seinen neuen Sonnenbrillen, den zurück gegelten Haaren und einem vollen Gesicht vor blauem Meer. Und ich mich daran erinnerte, diesen Mann auch so erlebt zu haben.
Doch ich erfuhr auch Dinge, die ich nicht wusste – schwere Dinge, die seinen Weg gekreuzt haben und seine Lebenslust gedämpft haben. Bei all dem fiel mir auf, dass davon gesprochen wurde, was für ein Mensch J. war. Nicht seine Verdienste an der Allgemeinheit, im Beruf oder sonst wo werden erzählt, sondern seine Wesenszüge, seine Eigenheiten, auch seine Schwächen. Und das kam ganz und gar nicht pietätlos, sondern rundete das Bild ab. Ein gemeinsamer Freund schrieb mir, dass J. einen großen Einfluss auf ihn gehabt hätte. Nicht manipulierend, sondern inspirierend. Und ich stimme zu. Er war damals genau das, was man heute einen „influencer“ nennt. Nur halt ohne Social Media. Einer, der Menschen begeistern, mitreißen, zum Strahlen bringen konnte. Und der aufgrund seiner schillernden Persönlichkeit jedem ein gutes Gefühl gab, der mit ihm ins Gespräch kam. Auch mir.
Und er tut das über seinen Tod hinaus. Ich fühlte mich wohl inmitten der fremden Menschen, mit denen ich nach der Verabschiedung am Tisch sitze. Sein Bruder ist verändert, und doch würde ich ihn an kleinen Bewegungen und seiner Mimik überall erkennen. Ich habe seine Freude über mein Dasein gesehen, und er hoffentlich meines auch. Wir haben eben alle den gleichen Menschen geliebt – so etwas verbindet. J. wird noch lange Menschen zusammenbringen, die sich seiner mit einem Lächeln und einer Träne erinnern. Und froh sind, dass sie Teil seines Lebens sein durften.
Es sollte wohl sein, dass ich eine Nachricht aus der Vergangenheit bekommen habe. Weil ich dadurch gelernt habe, dass Pauschalisierungen selten zum Glück führen. Eher in die Vermeidung von Glück. Als ich ins Auto gestiegen bin und mich gegen den Sturm in Richtung Westen gedrückt habe, spürte ich ein warmes Gefühl in der Magengrube. Weil es etwas gibt, was bleibt. In diesem Fall Verbundenheit jenseits aller zeitlichen Dimensionen.
PS: Nächste Woche habe ich ein Date. Mit mir selbst. Wie das ausgegangen ist, lesen Sie in zwei Woche wieder hier an dieser Stelle.