Solange eine Gesellschaft nicht bewusst und offen über Mitgefühl spricht, solange kann sich auch kein Mitgefühl bewusst entfalten. Eine Gesellschaft, die sich vordergründig als Leistungsgesellschaft versteht, strebt sehnsüchtig nach Leistung und Erfolg.
Dabei erfährt sich jeder Erfolg und jeder Misserfolg, jede Leistung und auch jede Fehlleistung mit Gefühlen. Eine Wissensgesellschaft, die permanent nach Bildung strebt, verkennt die Bedeutung der Weisheit von Gefühlen, solange sie sich nicht bewusst macht, dass sich jedes Wissen und auch jede Unwissenheit mit Gefühlen erfährt. Welche bewusste Rolle spielen Gefühle in der Bildung oder in Weltanschauungen? Wer macht sich die Bedeutung von Gefühlen in seinem Denken bewusst? Unbewusst können Gefühle keine bewusste Bedeutung haben.
Wie fühlt es sich an, wissend oder unwissend, klug oder dumm, wichtig oder unwichtig, belesen oder unbelesen, gebildet oder ungebildet, fähig oder unfähig zu sein?
Wie fühlt es sich an, für sein Wissen und seine Klugheit geachtet oder missachtet, aufgewertet oder abgewertet, belohnt oder bestraft zu werden?
Wie fühlt es sich an, zu den Leistungsträgern oder Wissensträgern einer Gesellschaft zu gehören? Wie fühlt sich Erfolg an? Wie fühlt es sich an, ein Verlierer, ein Taugenichts, ein Außenseiter oder Versager zu sein?
Wie fühlt es sich an, vermeintlich falsch (unvollkommen) statt richtig zu sein ?
Wer wird bewusst in seinen Gefühlen geachtet und anerkannt, wer hingegen missachtet und abgelehnt? Warum lehne ich andere, wann lehne ich mich ab?
Meist lehnen wir andere ab, weil sie unsere Erwartungen (Ideale) nicht erfüllen. Ideale Vorstellungen entspringen der Sucht nach Vollkommenheit, die unbewusst die Existenz einer jeden Unvollkommenheit ablehnt. Dabei ist die Unvollkommenheit in sich vollkommen.
U.a. Kritiksucht ist Ausdruck der Sucht nach Perfektion. Verstandesorientierte Menschen sind oftmals unbewusst im Umgang mit ihren Gefühlen, so dass sie nicht mitbekommen, wie sich Kritik anfühlt. Kritik, so positiv sie auch geäußert werden mag, ist immer eine Ablehnung des IST-Zustandes der Gegenwart.
Welches Gefühl willst Du künftig erreichen und am liebsten festhalten, wenn Du fortlaufend nach Veränderungen strebst? Süchtiges Streben nach Verbesserung (Perfektion) ist unendlich und setzt immer wieder voraus, dass etwas nicht vollkommen ist. Welches (Mit-) Gefühl ist unvollkommen?
Reformen werden sich immer erfahren. Das Ende einer Reform ist der Anfang der nächsten. Welches Gefühl willst Du reformieren/fortlaufend bekämpfen?
Jede Reform erfährt sich durch Gefühle, vor allem, wenn sie gegen Widerstand (Kritik) durchgesetzt werden muss. Widerstand ist ein Gefühl, so wie Zustimmung, Kompromisse und Konflikte gefühlt erfahren werden können.
Das Pendant der Kritiksucht ist die Sucht nach Anerkennung (Lob, Ehre). Ehrgeiz könnte auch Ehrsucht oder Ehrgier heißen. Der Sehnsucht nach Ehre und Würde steht die ständige Ablehnung von Ehr- und Würdelosigkeit gegenüber.
Jeder erfährt sich in seinen Süchten (Sehnsüchten).
Jede Sucht wie auch jede Ablehnung bedarf des Mitgefühls.
Wer ständig Lob braucht, der ist süchtig nach Anerkennung. Wer ständig Erfolg braucht und stetig Leistung von sich oder anderen verlangt, der ist zwanghaft in seinem Streben nach Anerkennung. Alles will exakt so sein. Der Zwanghafte kann seinen Zwang erkennen und sich frei von seinen Zwängen machen, indem er das ewige Zusammenspiel von Freiwilligkeit und Zwang erkennt.
Das ist die Freiheit des Seins in-allem-was-ist, weil Liebe ist. Wenn Frieden und Freiheit in-allem-ist, dann ist der Kampf beendet und das bewusste Spiel, der Tanz des Lebens kann beginnen.
Lerne die Wellen zu reiten statt die Wellen des Ozeans bekämpfen oder gar besiegen zu wollen. Du kannst Dich immer nur selbst besiegen. Was wäre ein Ozean ohne Wellen? – er wäre ohne Bewegung. Polarität ist die Bewegung des Lebens. Die Lebendigkeit des Seins resultiert aus allem, was „nicht sein soll“ oder „nicht sein darf“. „Was sein darf“ ist der ständige Spiegel allen Nichtseins. Vereine es in Dir. Die gefühlte Vereinigung heißt Mitgefühl. Es ist die Verbundenheit in-allem-was-ist.
So wie der Mensch nach Aufmerksamkeit verlangt, so verlangt er auch nach Anerkennung. Wer extrem viel verlangt (erwartet), der hat das „Verlangens- oder Erwartenssyndrom“. Andere sagen Gier oder Maßlosigkeit. Die Maßlosigkeit als Extrem will sich erfahren – so wie der Gegenpol von Entsagung, Verzicht und Askese. Gier, Süchte und Maßlosigkeit bedürfen des Mitgefühls statt der Ablehnung. Auch die Ablehnung selbst bedarf immer wieder neu des Mitgefühls.
Es gibt auch eine Gier nach Bescheidenheit, wenn ich für meine Bescheidenheit geachtet werden will. Doch wer will schon wirklich Missachtung? Das Verlangen von Bescheidenheit ist niemals ein bescheidenes Verlangen.
Letztlich strebt jeder nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, weil niemand bewusst nach Aberkennung (Ablehnung, Missachtung, Ignoranz) strebt.