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„Kürzlich fragte mich mein Freund Richard nach einer ausführlichen Schilderung meines bisherigen Jahres, wann ich es verloren geben würde. Und irgendwie hat mich diese Frage aufgewühlt." Claudia Dabringer in ihrem neuen Blog über das Verlorengeben von Zeit.

Vor meinem Büro reifen die Trauben und ich sollte sie ernten, bevor Amseln und Elstern es tun. Das Problem: Nur einen Teil davon kann ich eigenverantwortlich pflücken, für den Rest brauche ich externe Unterstützung. Und damit sinkt die Kontrolle über den Erfolg dieser Unternehmung. Wie bei vielem in diesem Jahr, das bislang etwas zäh verlaufen ist.

Kürzlich fragte mich mein Freund Richard nach einer ausführlichen Schilderung meines bisherigen Jahres, wann ich es verloren geben würde. Und irgendwie hat mich diese Frage aufgewühlt. Schon allein die Annahme, man könne Teile seines Lebens als Verlust betrachten, kam mir bislang nie in den Sinn. Das wäre, als schnitte man sich einen Arm oder ein Bein ab. Und doch gibt es immer wieder Aussagen, die man wiederholt hört oder macht, die genau in diese Richtung zielen.

Mein einziges sogenanntes ‚verlorenes‘ Jahr hatte ich zwischen 17 und 18. Da blieb ich in der Schule sitzen. Der Klassiker: verliebt, lernunwillig, verstockt. Ersteres mündete in eine heimliche Verlobung, Zweiteres in zwei Wiederholungsprüfungen, die ich aufgrund von Blackout versemmelt habe. Und als Drittes empfanden mich meine Eltern, denen ich logischerweise nicht erzählte, dass ich ihre Unterschriften gefälscht hatte, um sie von den ‚blauen Briefen‘ zu verschonen. Aus der heutigen Sicht habe ich wohl eher mich selbst vor ihren Reaktionen oder Sanktionen geschützt. Doch die blieben ohnehin nicht aus, obwohl ich drei von fünf Fünfern ins Positive drehen konnte. Einerseits würde ich das als verlorenes Jahr betrachten, das mich von der Gestaltung meines eigenen Lebens ferngehalten hat. Was hätte ich da alles machen können! Doch halt! Ich bin alles eben ein Jahr später angegangen und aus heutiger Sicht war das noch früh genug. Verloren war es andererseits deshalb nicht, weil ich mich ein weiteres Mal verliebt und daraus wertvolle Erkenntnisse geschöpft habe. Und durch die Wiederholung des Schulstoffes die Matura schaffte – knapp, aber doch. Also auch nicht wirklich ein verlorenes Jahr. 

Wenn man heutzutage die jungen Menschen so früh als möglich in den Arbeitsmarkt bringen will und ihnen kaum Zeit lässt, während des Studiums zu atmen, geschweige denn zu kontemplieren, was sie da in sich hineinstopfen, geschieht das auch unter dem Damoklesschwert, auf dessen Klinge ‚verlorenes Jahr‘ steht. Ich frage mich immer, warum man ihnen im Sinne der Geistes- und Herzensbildung das nicht zugesteht. Ich denke an meine Jungs, die sich in ihren Studien vergraben, kaum mehr auf ihre kommunikativen Fähigkeiten, wahlweise sozialen Kompetenzen achten, weil sie von ihrem Lernpensum praktisch überschwemmt werden. Sie führen ein Leben, das man keinem mittelalterlichen Menschen wünscht: essen, schlafen, auf die Uni gehen, lernen. Natürlich gibt es dazwischen den einen oder anderen Exzess, wahlweise eine Paarzeit – doch von Work-Life-Balance sind sie weit entfernt. Und von Geistes- und Herzensbildung auch. Letzteres ist natürlich auch und vor allem die Aufgabe des Elternhauses oder der Gemeinschaft, die zum Wachsen eines jungen Menschen beiträgt. Geschenkt. Doch wenn ich mich an meine Studienzeit erinnere, gab es sehr viele Kontakte zwischen den einzelnen Studienrichtungen, wo man auch mal etwas anderes hörte oder besprach als die intimen Details aus dem eigenen Lernsumpf. Und ja, nicht nur in der Mensa, sondern auch auf dem einen oder anderen Studentenfest. Gibt es die heutzutage überhaupt noch? Ich höre nichts darüber, und normalerweise bin ich diejenige, die davon erzählt bekommt. Weil ich weiß, dass sich Leben und Lernen vereinbaren lassen. Oder muss ich sagen: ließen? Fast scheint mir, dass das Interdisziplinäre wenig erwünscht ist, so sehr es in der Wissenschaft immer plakatiert wird. Doch wenn sich ein Mathematiker und ein Geisteswissenschaftler in einem Raum befinden und jedem vor Selbstwert die Knöpfe vom Hemd springen, die das dritte Auge des Gegenübers treffen, ist man dem Kampf näher als dem Austausch. Doch genau darum geht es, vor allem während der Lehr- und Wanderjahre. Das nicht zu haben ist für mich verlorene Zeit.

Glücklicherweise darf ich Zeit mit meinen beiden Strebern verbringen und mit ihnen Stunden teilen, die sie mit Kultur, Politik oder Zwischenmenschlichem in Kontakt bringen. Ich gebe ihre Geistes- und Herzensbildung genauso wenig verloren wie dieses oder ein anderes Jahr meines Lebens. Denn jeder Tag kann eine Wendung bringen, ja jede Sekunde. Und wenn das heurige Jahr wegen der vielen gescheiterten und wenigen geglückten Initiativen bislang etwas zäh war, so kann es trotzdem noch Fahrt aufnehmen, schneller als ich den Klodeckel öffne. Zu Silvester werde ich meine Füße in ägyptischen Sand stecken, an die Flaschen voller Traubensaft denken und zufrieden damit sein. Der Unart, auf den einen schwarzen Fleck auf der weißen Weste zu starren, muss ein Ende gesetzt werden. Machen Sie mit?

Claudia Dabringer

Claudia Dabringer

Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg mit allem, was zu einer Studentenzeit dazugehört. Mehrjährige Konzentration aufs Radiomachen, bis alles durchexerziert war und das Schreiben wieder im Kopf präsent wurde. Seitdem freie Journalistin und als Fachtrainerin & Schreibpädagogin...
Kommentare  
# RoMan Blach 2017-09-08 08:42
Unheimlich toller, inspirierender Artikel! Danke dafür!
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# Veronica Hiel 2018-01-09 19:15
Ich liebe den Freitagsblog! :)
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