Ein Freund von mir ist jetzt bei Tinder. Nicht dass er es in meinen Augen notwendig hätte – gutaussehend, erfolgreich, unverheiratet. Und eigentlich mag er auch gar niemanden kennenlernen, weil er gerade seine misanthropische Phase hat. Und trotzdem...
Ich kenne einige Menschen, die ihr Glück über Kontaktplattformen im Internet gefunden haben. Familien gegründet haben, aus ihrem vertrauten Umfeld weggezogen sind oder sich einfach nur bezaubernd fanden in ihrer jeweiligen Selbstdarstellung. Alles gut und wohl vergönnt. Andere hingegen haben sich damit gequält, dass irgend ein Logarithmus sie mit Menschen zusammen gespannt hat, die mit ihrer Vorstellung von einem/einer Partnerschaftsaspiranten/in so überhaupt nicht konform ging. Da hat der Logarithmus wohl einen mehr oder weniger starken Schluckauf gehabt, als er beispielsweise einer überaus intelligenten, gut gebauten Frau einen Mann zuteilte, der außer Brummifahren nur wenig mehr zu bieten hatte. Glücklicherweise hat sie sich in der Folge zuerst vom Trucker und dann von der Plattform verabschiedet. Und nach einer kurzen Verschnaufpause mit Tinder geliebäugelt. Man kann von einem weiteren Glück sprechen, dass ihr in der realen Welt jemand dazwischen kam.
Meine Recherchen ergeben, dass Tinder eigentlich für Menschen zwischen 18 und 35 gedacht ist. Dieser Freund sprengt diesen Rahmen, die von ihm angepeilte Frau allerdings nicht. Doch anscheinend hat sich das System inzwischen verselbständigt, und es sind dort auch Leute anzutreffen, die die Vorgaben sprengen. Wie dieser Freund. Und andere Frauen, die als Matchmaker in Frage kommen. Und die eigentlich schon einen Mann haben, aber man weiß ja nie, nicht? Wie auch immer. Auf jeden Fall machte der Freund einen Versuch und gab zuerst die Altersgruppe 25 bis 35 ein, danach die Altersgruppe zwischen 35 und 45. Wäre schließlich immer noch jünger als er. Gut. Die Bilanz: Die älteren Frauen hatten genauso wenig gute Manieren, wussten Zugewandtheit und Interesse ebenso wenig zu schätzen wie die Jüngeren. Darauf der Freund: „Wenn eh alle gleich sind, kann ich mich auf eine konzentrieren, die wenigstens knackig ist.“
Was mache ich jetzt mit so einer Aussage? Am liebsten würde ich ihm die Geschichte von der Schönheit, die vergeht, erzählen. Doch bei jüngeren Frauen dauert das Vergehen natürlich etwas länger, und das kommt ihm zugute. Also sitze ich schweigend neben ihm und überlege, warum Manieren Mangelware sind. Wo doch einschlägige Umfragen besagen, dass Frauen an Männern respektvolles Verhalten, Humor und Aufmerksamkeit schätzen. Kann er alles, dieser Freund. Wenn er will. Doch wenn er auf Unhöflichkeit trifft, vergisst er es. Recht so. Ärgern tut er sich trotzdem. Und schlägt seine misanthropische Se/aite an, in die ich nur mitschwingen kann.
Dennoch komme ich immer noch nicht über die Knackigkeitsaussage hinweg. Meine persönliche Erfahrung ist ja, dass mir der knackigste Mann gegenüber sitzen kann. Wenn er Luftblasen produziert, entsprechend aufgeblasen agiert oder nicht den Hauch einer Ahnung von Witz hat, können Sie mir den Sixpäck auf den Bauch kleben. Das wird nichts. Wenn allerdings jemand vor Geist sprüht, Charme besitzt und gepflegt ist, kann er ruhig einen Bauch oder eine hohe Stirn haben. Da zählt das Herz. Ist das bei Männern anders? Ist es wirklich so, dass man Schönheit mehr verzeiht? Auch Geistlosigkeit, mangelnde Herzensbildung und Empathie? Das macht mich nachdenklich.
Ich stoße auf eine weitere Umfrage, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Männer legen laut der daraus gewonnenen Erkenntnisse Wert auf ein gepflegtes Äußeres, ein großes Herz, Humor, Sicherheit und Aufmerksamkeit. Klingt leistbar für mich, auch für ältere Frauen. Die ja heute meilenweit davon entfernt sind, violett gefärbte Ondulierfrisuren zu Markte zu tragen und in Funktionskleidung durch den Tag zu rennen. Na ja, einige zumindest. Immer mehr. Und doch suchen Männer nach jüngeren Frauen. Einige zumindest. Wie mein Freund. Ich weiß, dass sie ihm immer nur Probleme machen werden, weil sie es immer getan haben. Doch wieder einmal sehe ich etwas, was mein Gegenüber nicht wahrhaben will. Ist eine Plage, aber auch eine andere Geschichte.
Anyway: Wieder einmal bin ich froh, dass mir das Geheimnis von Dating-Plattformen bislang verschlossen blieb. Auch die Notwendigkeit, denn ich treffe im richtigen Leben genügend Männer, bei denen ich unmittelbar herausfinden kann, ob es funkt, passt, Spaß macht oder nicht. Ich bin wohl bei aller Umtriebigkeit im Netz doch eher der analoge Typ. Vielleicht kann ich meinen Freund dafür begeistern. Sollte ich scheitern, werde ich das an den Zeilen „Hast Du Zeit für einen Kaffee? Muss jammern...“ schon merken.