Oft übersieht man den Zeitpunkt, an dem die emotionale Leere eintritt. Es ist ja nicht so, dass aus diesem Vakuum eine Stimme sagt: „Ich bin dann mal weg!“ Nein, meist stellt man fest, dass man einen Zustand aufrechterhalten hat, der von jedem anderen Gefühl getragen wurde, nur nicht von Liebe.
Mir wird hin und wieder vorgeworfen, ich sei radikal. Und wenn ich mir dieses Wort anschaue, das vom lateinischen ‚radix‘ (= die Wurzel) abstammt, dann schiebe ich meinen ersten Schimpfimpuls gleich wieder in meinen Rachen zurück. Denn in diesem Sinne bin ich tatsächlich radikal. Ich gehe Dingen an die Wurzel und wenn ich sie gefunden habe, kann es passieren, dass ich die Dinge samt der Wurzel ausreiße. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich seeeeeeeeeehr lange warte, bis ich das tue, denn ich bin alles andere als von der schnellen Truppe, wenn es ums Graben geht.
Natürlich möchte ich das manchmal gerne schneller tun, doch da kommt mir dann das Wetter oder die Katze dazwischen, die das werdende Loch als neue Toilette missbraucht. Der Wind weht Blätter hinein, die Arbeit zwingt mich an den Laptop oder Besuche erfordern meine Aufmerksamkeit. Währenddessen, vor allem in diesem regnerischen Sommer, erobert sich das Unkraut den Platz zurück. Doch ganz hinten in meinem Kopf grabe ich weiter. Und sitze. Und sitze. Und sitze. Meist bis lange nach Mitternacht, wenn ich einen vollen Tag hatte und dem grabenden Denken wenig Raum schenken konnte.
Da wird Schicht für Schicht abgetragen, jeder noch so kleinste Fortschritt gefeiert und am nächsten Morgen wieder betrauert, weil er nicht den nachhaltigen Erfolg bringt. Mit sachlichen Themen geht es leichter, bei emotionalen schwerer. Denn meist hängen sie mit einem Gegenüber zusammen, das sich am Ende nie kontrollieren lässt. Das natürlich seine eigene Sicht, seinen eigenen Kopf, seine eigene Gedankenwelt hat.
Mir ist bewusst, dass man Menschen kaum ändern kann. Deshalb versuche ich stets, an meiner Einstellung ihnen gegenüber zu arbeiten. Darauf fußt auch meine Vorliebe für das Graben. Und ja, es kann ziemlich wehtun, dieses Buddeln und das daraus folgende Entdecken von Eigenheiten, die wenig schmeichelhaft sind. Das Gute: Irgendwann einmal integriert man die Schattenseiten, erkennt sie an und ist mit ihnen im Reinen. Und sieht plötzlich die wahren Gefühle hinter einem Problem.
Wenn man beispielsweise einen Menschen liebt und merkt, dass der Sand im Getriebe immer mehr wird, hat mich mein erster Weg stets in die Selbstoptimierung geführt. Und das Wundern darüber, dass die Menge an Sand weiter wuchs, war groß. Aus der daraus resultierenden Verzweiflung heraus griff ich zur Schaufel, zwängte sie dem Gegenüber auf und nahm sie wieder an mich, weil es zu wenig Engagement zeigte. Und grub. Und funktionierte. Und grub. Und funktionierte. Das zog sich manchmal jahrelang dahin. Als mir dann das letzte Mosaiksteinchen an den richtigen Platz fiel, schaute ich beglückt auf das freigelegte Bild und weinte trotzdem. Weil ich plötzlich feststellte, dass ich in dieser Phase des Grabens so darauf fokussiert war, dass mir genau das abhandengekommen war, was mich zum Buddeln gebracht hatte: die Liebe.
Kürzlich wollte ich ein Traktat über die Liebe schreiben, was sie ausmacht, was sie bewirkt, wie sie bereichern und erheben kann. Ich konnte keine einzige Zeile schreiben, obwohl dieser Text einen Menschen erreichen sollte, dem mein Herz gehörte. Und wieder wollte ich graben und nach der Ursache dieser Schreibblockade suchen. Doch dann merkte ich, dass mein Herz still und heimlich zu mir zurückgekehrt war, mir die Schaufel aus der Hand nahm und mir zuflüsterte: „Es ist genug.“