Über Jahrhunderte hat sich die japanische Teezeremonie mit ihren vielen Regeln zu einer perfekten Meditationsform entwickelt, die der Zen-Philosophie zugrunde liegt. Die Teezeremonie ist ein Zusammenspiel aus Tradition, Respekt, Kultur und Genuss.
Eingeweihte sprechen nicht so sehr von Teezeremonie, sondern vielmehr vom Teeweg, und Teeweg bedeutet ein lebenslanges Bemühen – darum, sich selbst zurückzunehmen, dem vorlauten Ich Einhalt zu gebieten, anderen aus aufrichtigem Respekt heraus Wohlbefinden zu schenken, ein Höchstmaß an Achtsamkeit und Sorgfalt zu erreichen und – in der Sprache des Zen-Buddhismus – sich unserer Buddha-Natur anzunähern, unserem ‚ursprünglichen Antlitz, das uns schon zu eigen war, noch bevor Vater und Mutter geboren waren'.
Was landläufig Teezeremonie heißt, ist entweder eine formelle und auf einen kleinen Kreis von Teilnehmern beschränkte Tee-Einladung (Chaji) oder eine zumeist öffentliche Vorführung, für die es aufseiten der Gäste – anders als beim Chaji – keiner Vorkenntnisse bedarf und an denen daher jeder teilnehmen kann, der Neigung und Neugier in sich spürt. Aber auch eine solche Vorführung vermag durchaus Wesentliches vom Geist des Teewegs zu vermitteln: Immer wieder äußern Menschen, die bei einer öffentlichen Vorführungen zu Gast waren, nachträglich ihren Dank für die Erfahrung tiefer, wohltuender Ruhe und inneren Friedens.
So ist der Teeweg, trotz seines hohen Alters von mehr als 450 Jahren, keine antiquierte Folklore; vielmehr beweist er gerade in unserer von Unrast, Unsicherheit, ständig wachsenden Anforderungen und Zumutungen bestimmten Gegenwart seinen Wert und seine Lebendigkeit.
Es waren drei aufeinanderfolgende ‚Teemeister', Murata Jukô, Takeno Jôô und Sen no Rikyû, die im Laufe des 16. Jahrhunderts dem Teeweg diejenige Gestalt gegeben haben, in der er auch heute noch, und zwar weltweit, Freunde und Anhänger findet. Zwar hat es auch vorher schon Formen geselligen Teetrinkens gegeben, bei denen Angehörige der japanischen Adelsschichten sich zu Teespielen und anderen Unterhaltungen einluden und dabei einander ihre kostbaren chinesischen Kunstschätze, Porzellane, Kalligrafien, Rollbilder präsentierten. Murata Jukô, Takeno Jôô und Sen no Rikyû haben den gemeinschaftlichen Genuss des Tees aus dieser Vorherrschaft chinesischer Prunkstücke befreit und stattdessen, Schritt für Schritt, einen Tee der Schlichtheit geschaffen, bei dem auch und gerade Gerätschaften mit deutlichen Spuren von Alter und Gebrauch verwendet werden (den sog. Wabi-cha). Vor allem aber haben sie, sämtlich Männer mit langjähriger Zen-Ausbildung, den Geist des Zen-Buddhismus in den Teeweg eingeführt und damit den Teeveranstaltungen eine neue Dimension verliehen, die einer nachhaltigen spirituellen Tiefe. Fortan sollte sich jede Teezusammenkunft an vier Leitbegriffen ausrichten: Harmonie (Wa), Respekt (Kei), Reinheit (Sei) und Stille (Jaku). Insbesondere die beiden letzten, Reinheit und Stille, tragen eindeutig spirituellen Charakter: Sie zielen auf eine Reinigung des Herzens, auf die Reinheit eines von allen weltlichen Belangen befreiten Geistes sowie auf die Stille intensiver gemeinsamer Versenkung, die so weit gehen kann und soll, dass gleichsam niemand, kein Ich, mehr im Raum ist: „Kein Gast und kein Gastgeber!" Von diesem spirituell ausgerichteten Teeweg heißt es noch heute: „Cha zen ichimi!" „Tee und Zen sind ein einziger Geschmack!"
Eine Sonderrolle in der Geschichte des Teewegs hat Sen no Rikyû eingenommen. Er verdankt den überragenden Einfluss, den er auf die Welt des Tees insgesamt hat ausüben können, seiner sozialen Stellung als Lehrmeister, Ratgeber und Bevollmächtigter des damals mächtigsten Mannes, Toyotomi Hideyoshi. Rikyûs Hauptschüler, seine sog. Sieben Weisen, gehörten als Gefolgsleute Hideyoshis sämtlich dem Schwertadel an und haben, auf mehr oder weniger unterschiedliche Weise, den von Rikyû vorgegebenen Stil in den Kreisen des Schwertadels fortgeführt. Daneben hat es auch eine bürgerliche Tradition des Teewegs gegeben, maßgeblich von den nachfolgenden Generationen der Familie Sen bestimmt und vornehmlich von wohlhabenden Kaufleuten ausgeübt. Beiden war die Kehrtwendung weg von makellosem chinesischem Porzellan und hin zu unprätentiöser Keramik einheimischer und noch mehr koreanischer Herkunft gemeinsam. Zugleich aber konnten beide sich nicht gänzlich dem Bann chinesischer Eleganz und Perfektion entziehen und haben entsprechendes Gerät für den von ihnen gleichermaßen gepflegten sog. ‚wahren' Stil (Shin) bestimmter Zeremonien beibehalten.
Damals wie heute verlangt eine formelle Tee-Einladung, das Chaji, nicht nur dem Gastgeber (und das kann heute auch eine Gastgeberin sind) großes Können ab, sondern ebenso den Gästen. Beider Rollen sind bis in Einzelheiten vorgeschrieben und deshalb müssen auch die Gäste eine Vielzahl von Kenntnissen und eingeübten Handlungssequenzen einbringen. Im Mittelpunkt der etwa vierstündigen Zusammenkunft steht ein aus pulverisiertem Grüntee zubereiteter Teebrei (Koicha, ‚dicker Tee'), von dem der Gastgeber vor den Augen der Gäste in einer einzigen Schale eine gemeinsame Portion für alle Anwesenden (außer sich selbst) herstellt. Dieser Teebrei ist in der Tat, wenn nicht gerade zum ersten Mal genossen, eine Köstlichkeit besonderen Ranges: Der erste Gast holt die Schale zu seinem Platz, bedankt sich beim Gastgeber und nimmt ein, zwei Schlucke zu sich; dann reinigt er sorgfältig die Stelle der Schalenwand, die er mit seinen Lippen berührt hat, und reicht die Schale so an den nächsten Gast weiter, dass der (und anschließend auch alle übrigen Gäste) sie an derselben Stelle wie der Vorgänger zum Mund führt und ‚trinkt', bis schließlich die leere Schale zum Gastgeber zurückkehrt und mit einer Mischung aus heißem und kaltem Wasser ausgewischt und gesäubert wird: Andächtige Aufmerksamkeit seitens der Gäste und ehrfürchtiges Schweigen herrschen während dieses Rituals, das von großer Würde gekennzeichnet ist. Über weite Strecken hin sind die Gäste in den Anblick der ruhigen und eleganten Handlungen des Gastgebers versunken, der sich seinerseits, erfüllt vom gleichen Geist des Nicht-Denkens (Mushin), vor einem Kessel leise summenden heißen Wassers und einem Gefäß mit Frischwasser kniend ganz in seine vielerlei Aktionen hineingibt. Beider Rollen, die der Gäste nicht weniger als die des Gastgebers, werden mit tiefer und anhaltend konzentrierter Aufmerksamkeit ausgeführt: Es entsteht eine Atmosphäre intensiven Friedens und freudiger Gelassenheit.
Dieses Ritual aus Zubereitung und Genuss des Teebreis wird eingerahmt von einem einleitenden Essen, das den Magen der Gäste auf den sehr kräftigen Koicha vorbereiten soll, und der abschließenden Zeremonie eines ‚dünnen Tees' (Usucha), die – nach Art eines Ausklangs – die ‚Strenge' des Mittelteils ins Leichtere wendet. Sowohl bei dem vorbereitenden Essen (Kaiseki) als auch bei der Zubereitung beider Teearten schließt der Gastgeber sich selbst vom Genuss dessen, was er seinen Gästen anbietet, aus: Aller Aufwand, den er (oder sie) bei der gesamten Veranstaltung treibt, alle Sorgfalt, die er (oder sie) dabei an den Tag legt, dient ausschließlich dem Wohlergehen der Gäste!
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 78: „Der Spirit der Alten"
Bei öffentlichen Vorführungen wird in Japan wie im deutschsprachigen Raum in der Regel nur der ‚dünne Tee' angeboten, der – weil weniger formell – den Gästen keine bis ins Einzelne hinein korrekte Ausführung ihrer Rolle abverlangt und sich auch für eine größere Anzahl von Teilnehmern einfacher zubereiten lässt.
Außer dem vielfältigen Teegerät, das Stück für Stück künstlerischen Anspruch erhebt und von den Gästen respektvolle Aufmerksamkeit einfordert, befinden sich in dem ansonsten schmucklosen Teeraum noch ein Blumengesteck sowie eine Kalligrafie, von der schon Rikyû gefordert hat, sie solle möglichst ein Buddha-Wort oder sonst einen Ausspruch aus dem Umkreis der Buddha-Lehre zum Inhalt haben. So gibt es auch heute noch Kalligrafien mit den Schriftzeichen Fu ni, ‚Nicht-Dualität' (aus dem Vimalakirtî-Sûtra) oder Honrai mu ichi motsu, ‚Ursprünglich ist da kein einziges Ding' (aus dem angeblichen Erleuchtungsgedicht des Hui-neng), was beides auf den Zustand höchster Versenkung abzielt. Doch heutzutage haben Begriffe wie ‚Nicht-Dualität' häufig auch in der Welt des Tees keine handlungsleitende Bedeutung mehr – wie der Verfasser ganz allgemein einräumen muss, dass in der Gegenwart die allgemeine Praxis des Teewegs dem hier skizzierten spirituellen Ideal nur mit Einschränkungen entspricht.
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