Wir leben in einer übersexualisierten Gesellschaft, gleichzeitig haben immer weniger Paare Sex. Sexualwissenschaftlerin Susanne Wendel wollte wissen, wie ein erfülltes Sexualleben möglich ist, auch in Langzeitbeziehungen.
Die eine Nacht mit einem Fremden, die das ganze Leben verändert … Gibt es die wirklich? Laut einer Studie vom Beginn der 2000er-Jahre glaubt die Hälfte der Deutschen daran. Und 15 Prozent der Befragten hatten angeblich schon einmal ein solches Erlebnis. Ich wollte wissen: Geht „Life Changing
Sex“ eigentlich auch mit dem eigenen Partner? Kann man mit dem Menschen, mit dem man zehn, 20 oder 30 Jahre zusammen ist, Sexualität noch einmal ganz neu entdecken? Das Klischee von Langzeitbeziehungen lautet doch: Die Leidenschaft verschwindet mit der Zeit, das Liebesleben wird routiniert und der Sex langweilig. Doch es gibt Paare, bei denen der Sex im Laufe der Jahre immer besser, intensiver, schöner wird. Was machen sie anders als alle anderen?
Viele Menschen beschäftigen sich mittlerweile mit Sexualität. Immer mehr Bücher kommen auf den Markt. Immer mehr Blogs, Podcasts, Vlogs, Artikel, Sendungen, Postings und Angebote erscheinen auf allen Kanälen. Vor allem die weibliche Sexualität hat in den letzten Jahren (endlich!) die verdiente Aufmerksamkeit erhalten. Gleichzeitig lese ich aber immer häufiger, dass die Leute de facto immer weniger Sex haben.
Sex – zu viel oder zu wenig?
„Das Sexleben hat sich bei Paaren weltweit während der Pandemie verschlechtert“, so das Ergebnis einer Studie des University College in London. Bereits im Jahr 2014 veröffentlichte das Journal „Archives of Sexual Behaviour“ eine Studie, die zeigte, dass junge Menschen heutzutage weniger Sex haben als ihre Eltern vor 25 Jahren. Sind wir eine Gesellschaft voller übersexualisierter Sexmuffel geworden? Meine These: Es braucht nicht nur das Wissen, sondern die echte, tiefe Verbindung zwischen Menschen. Und mehr Neugier aufeinander und darauf, was einem selbst und dem Partner tatsächlich Spaß macht!
Life Changing Sex nach 25 Jahren Ehe?
Für meine Masterarbeit habe ich Langzeitpaare interviewt und die Interviews nach wissenschaftlichen Methoden ausgewertet. Auch habe ich die Ergebnisse mit der bestehenden Forschungs- und Literaturlage abgeglichen, die allerdings noch sehr dünn ist. Ich konnte mehrere Faktoren herausarbeiten, die bei allen Paaren ähnlich vorkamen, egal ob sie zehn, 20 oder 30 Jahre zusammen waren. Und an manchen Stellen war ich überrascht.
Eine grundlegende und naheliegende Voraussetzung für Life-Changing-Sex-Erlebnisse ist, dass Paare sich Zeit für ihre Sexualität nehmen. Sie beschäftigen sich intensiv damit und nehmen sie wichtig – genau wie alle anderen Lebensbereiche auch. Guter Sex passiert nicht einfach so. Manche Paare haben sich stunden-, teilweise mehrere Tage lang Zeit für sexuelle Begegnungen genommen. So weit, so nachvollziehbar, so schwer manchmal in der Praxis umzusetzen.
Guter Sex braucht Zeit und Aufmerksamkeit
Weitere essenzielle Faktoren für ein sehr gutes Sexleben sind ehrliche und wertschätzende Kommunikation, Neugier und Risikobereitschaft, also die Bereitschaft, bewusst die sexuellen Routinen zu verlassen. Partner, die sich trauen, gemeinsam über Grenzen zu gehen, voll zu ihren sexuellen Wünschen zu stehen und sich gegenseitig zu inspirieren, haben besseren Sex. Und es bestehen gute Chancen, dass sie sich wieder neu ineinander verlieben.
Klar zu sagen, was man will, erfordert viel Mut. Manchmal entsteht dieser Mut aus Krisen. Das vielleicht Wichtigste ist, dass beide Partner in der Lage sind, nachzugeben und sich auf die Wünsche des anderen einzulassen. Wenn ein Partner mit Unlust dominiert, stehen die Chancen schlecht für guten Sex. Über allem steht der Humor. Alle Paare, mit denen ich gesprochen habe, hatten viel Spaß miteinander, haben viel gelacht und konnten sich auch in den verrücktesten Situationen humorvoll annehmen.
Tiefe Verbindung zum Partner, tiefe Verbindung zur Partnerin
Die kanadische Professorin Peggy Kleinplatz forscht bereits seit mehr als 20 Jahren über die positiven sexuellen Erlebnisse. Sie hat in einer aktuellen Studie Menschen befragt, die seit mindestens 30 Jahren in einer festen Beziehung waren, sowie Personen aus der LGBTQI- und BDSM-/Kink-Szene.
Entgegen den üblichen Vorstellungen berichten diese Menschen, die angaben, außergewöhnlich gute sexuelle Erlebnisse zu haben, weder von besonders intensiven Orgasmen noch von extremer Leidenschaft oder von besonderen Stellungen oder Praktiken. Sie beschreiben stattdessen eine tiefe Verbindung zum Partner und ein intensives Erleben des Moments bis hin zur Transzendenz. Sie benennen ein intensives Gefühl vom „Ganz-bei-sich-Sein“ und dem Vertrauen, sich ehrlich und verletzlich zeigen zu dürfen. Keine Spielchen. Kein Vortäuschen oder Manipulieren, sondern wahre Authentizität.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 126: „So gelingt Dein Leben"
Letztlich ist es tatsächlich nicht die eine Nacht, die das Leben verändert, sondern es sind Veränderungen im Leben, die die eine Nacht ermöglichen: Neugier, Bereitschaft zu Weiterentwicklung und Mut sind wichtige Voraussetzungen dafür.
Mein Fazit: Es lohnt sich, sich auf diese Reise zu begeben. Mit einem kleinen oder auch einem großen
Schritt, allein oder zu zweit, vielleicht sogar mit einem Coach, um zusammen herauszufinden, wo die größte gemeinsame Neugier liegt.
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